Die Helden von Glasgow – Hans Tilkowski: Das große Jahr von Dortmunds „Mister Zuverlässig“

Hätte es das Wembley-Tor nicht gegeben … wäre Hans Tilkowski dennoch eine Legende

99,99 Prozent aller Geschichten über Hans Tilkowski beginnen mit der berühmtesten und schwerwiegendsten Fehlentscheidung der Fußball-Geschichte. Diese nicht! Weil eine Geschichte über Hans Tilkowski dieses vermaledeite Wembley-Nicht-Tor gar nicht braucht. Nehmen wir doch einfach mal an, es hätte dieses Spiel, dieses WM-Finale 1966 zwischen England und Deutschland, nie gegeben – was wäre Hans Tilkowski dann: Richtig, immer noch eine Torwart-Legende! Immer noch einer, über den man unglaublich viel erzählen kann. Und immer noch einer, der gerne erzählt. Vor allem von den großartigen Jahren Mitte der 60er. Große Jahre für Borussia Dortmund und auch für ihn ganz persönlich.

Hans Tilkowski, geboren am 12. Juli 1935 in Dortmund-Husen, Sohn eines Bergmanns, begann seine aktive Zeit als Fußballer beim SV Husen 19, wechselte über die Stadtgrenze nach Kamen zu SuS Kaiserau und feierte seine ersten großen Erfolge mit Westfalia Herne. In der Saison 1958/59 wurde er mit dem Traditionsklub vom Schloss Strünkede überlegen Westdeutscher Meister. Nur 23 Gegentreffer hatte Tilkowski in der gesamten Oberliga-Saison zugelassen. Rekord!

Nationalspieler war er zu diesem Zeitpunkt auch schon. Sein Debüt im Team von Sepp Herberger feierte er 1957 beim 2:1-Erfolg über die Niederlande in Amsterdam. Als er sich fast auf den Tag genau zehn Jahre später beim 6:0 über Albanien im Stadion Rote Erde von der DFB-Auswahl verabschiedete, war es sein Länderspiel Nummer 39. Zur damaligen Zeit: Rekord für Torhüter!

Und es hätten noch weit mehr internationale Einsätze sein können. Doch der legendäre Bundestrainer Sepp Herberger und der legendäre Torwart Hans Tilkowski waren nicht immer die allerbesten Freunde. Als Herberger bei der WM 1962 in Chile überraschend dem jungen Wolfgang Fahrian den Vorzug gab, war Tilkowski nachhaltig verstimmt. Für zwei Jahre zog er sich aus der Nationalmannschaft zurück – dann stand Herberger auf der Matte und überredete ihn zum Comeback.

Geprägt hat Herberger Tilkowskis Spiel wie kaum ein anderer. Dass der Dortmunder als „Mr. Zuverlässig“ galt, als „sachlich“ und „gewissenhaft“, und dass er auf jegliche Show-Effekte verzichtete, das lag nicht zuletzt am Bundestrainer. Denn Selbstdarsteller waren Herberger suspekt. „Ich würde ihn gerne mal heute erleben. Diese jungen Spieler mit ihren ständigen Selfies würden ihn wahrscheinlich verrückt machen“, sagt Tilkowski über Herberger, der seinerzeit zu Tilkowski sagte: „Jede Flugeinlage ist eine zuviel. Du musst da stehen, wo der Ball hinkommt.“ Antizipieren – wie es neudeutsch heißt. Und genau das war Tilkowskis Stärke: sein Stellungsspiel, die Strafraumbeherrschung. Noch etwas hatte Herberger ihm mitgegeben: „Sie müssen die Abwehr dirigieren. Wenn sie das nicht schaffen, sind sie offenbar nicht von ihrem Können überzeugt.“ Also dirigierte Tilkowski, oft lautstark, denn Herberger wollte seinen Torwart hören können, auch dann noch, wenn es laut war im Stadion und er selbst weit entfernt saß.

Das alles machte Hans Tilkowski so gut, dass er 1964 zusammen mit dem gleichermaßen legendären Lew Jaschin in die Europaauswahl berufen wurde und 1965 nicht nur den DFB-Pokal mit Borussia Dortmund gewann, sondern auch als erster Torhüter überhaupt die Auszeichnung als Deutschlands „Fußballer des Jahres“ erhielt. Er stand im Tor der Nationalelf, als diese im Maracana von Rio de Janeiro gegen Brasilien zwar mit 0:2 unterlag. Doch nach dem Abpfiff feierten die 140.000 Zuschauer ihn mit Ovationen für seine tollen Paraden.

Und: Hans Tilkowski war der erste Torwart in der Geschichte der Fußball-Bundesliga, der einen Elfmeter parierte – am 2. Spieltag der Premieren-Saison 1963/64 gegen Alfons Stemmer. Der Akteur der Münchener Löwen galt als sicherer Schütze. Nach dem Spiel kam er kleinlaut zu Tilkowski und sagte: „Dass du den Ball gehalten hast, ist nicht so schlimm. Wirklich deprimierend ist, das du ihn FESTgehalten hast.“ Gleichwohl befand sich Stemmer in bester Gesellschaft. Auch ganz große Stars wie Wolfgang Overath und Franz Beckenbauer wurden im Duell Mann-gegen-Mann am ominösen Punkt nervös, wenn sich Hans Tilkowski vor ihnen aufbaute. Und scheiterten. Der Keeper parierte 7 der 17 Elfmeter, die in der Bundesliga gegen ihn geschossen wurden – eine Topquote.

Die Saison 1965/66, die in der Bundesliga mit einer großen Enttäuschung – der im Finish verspielten Meisterschaft – endete, aber im Europapokal mit dem ersten Triumph einer deutschen Mannschaft überhaupt, hat Hans Tilkowski in seinem Buch „Und ewig fällt das Wembley-Tor. Die Geschichte meines Lebens“ (Verlag Die Werkstatt) ausführlich geschildert. Es sind eindrucksvolle Erinnerungen – etwa an das Achtelfinale gegen den bulgarischen Armeesportklub ZSKA Sofia, dessen Spieler „Fußball offensichtlich für Ersatzkrieg“ hielten und gehörig austeilten. Im Rückspiel erhielt Tilkowski schon nach wenigen Minuten einen Faustschlag ins Gesicht. Der türkische Schiedsrichter Servan, der „das Prädikat ‚unparteiisch‘ nicht verdient“ hatte, ahndete das Vergehen nicht. Dafür zeigte er Hoppy Kurrat die Rote Karte, weil der sich über ein Foul an „Stan“ Libuda beschwert hatte. Kurrat schlich unter Tränen vom Platz.

Auch das 1:1 im Viertelfinale bei Atletico Madrid, die Regenschlacht, ist Tilkowski noch gut und in guter Erinnerung. Die Sportzeitung „Marca“ lobte den BVB anschließend als „Deutschlands beste Mannschaft der letzten 20 Jahre“. Im Halbfinale dann das Duell gegen Titelverteidiger West Ham United, das englische Spitzenteam mit dem Ausnahmetrio Bobby Moore, Geoff Hurst und Martin Peters, das England wenige Wochen später zum WM-Titel führte. „Wir waren krasser Außenseiter, wie auch im Endspiel gegen Liverpool. Aber unser Trainer Hennes Multhaup hat uns so lange stark geredet, bis wir’s ihm geglaubt haben. Er hat uns zusammengeschweißt. ‚Kann sein, dass wir neun von zehn Spielen gegen Liverpool verlieren‘, hat er gesagt. Aber heute nicht. Heute ist das eine Spiel, das wir gewinnen.“ Multhaup behielt Recht. Obwohl Liverpool nach Helds Führungstor zum irregulären Ausgleich kam. „Der Ball war vor Thompsons Flanke klar im Toraus. Ich bin sofort zum Schiedsrichter und habe reklamiert“, erinnert sich Tilkowski. Vergeblich. Verlängerung. Die Bogenlampe von Libuda. Pfosten. Tor. Fußball-Geschichte!

Hans Tilkowski, der Dortmunder Junge aus einer Bergmanns-Familie, ist bodenständig genug geblieben, um wertzuschätzen, was er als Sportler erleben durfte. „Fußball, alter Freund, ich danke Dir!“, sagte er 2015 anlässlich seines 80. Geburtstages. Der frühere Weltklasse-Torwart, für den Glaubwürdigkeit, Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Respekt immer die wichtigsten Werte waren, hat viel zurückgegeben in den vergangenen Jahrzehnten. Er hat sich als UNICEF-Botschafter und für andere gemeinnützige Zwecke engagiert, hat gewaltige Spendensummen eingesammt. In Herne, wo er mit Gattin Luise lebt, ist eine Schule nach ihm benannt. In Dortmund wählten die Leser der Westfälischen Rundschau Hans Tilkowski 2009 anlässlich des 100-jährigen Vereinsjubiläums zum Torwart der Jahrhundert-Elf. Eine schwarzgelbe Legende. Ein fester Bestandteil der BVB-DNA. Das Wembley-Tor spielt dabei überhaupt keine Rolle.

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