Du denkst, du kennst schon alles – und dann kommst du nach Dortmund!

Die Sonne scheint von einem wolkenlosen Himmel und die Quecksilbersäule im Thermometer wagt sich erstmals in 2017 über die 20-Grad-Markierung hinaus, als wir uns auf den Steinstufen des Trainingsplatzes in Brackel treffen. Es ist Gonzalo-Castro-Wetter.

„Ich mag Frühling und Sommer“, sagt er, „ich mag es, wenn die Temperaturen nach dem Winter wieder steigen.“ Da ist der 29-Jährige, der in Wuppertal geboren wurde, dann doch ganz Spanier. Da schlagen die elterlichen Gene durch. Spanien – das ist für Gonzalo Castro aber beileibe nicht nur die Erbmasse, es ist auch seine zweite Heimat und seine Leidenschaft. Die Familie lebt dort, die Eltern fliegen alle drei Monate „runter“, und auch Gonzalo Castro nutzt jede Gelegenheit, um Freunde und Verwandte zu besuchen. Mit Spanien verbindet sich auch ein sportlicher Traum. „Ich wollte immer einmal in Spanien spielen und möchte es immer noch. Aber das hat Zeit.“ Muss es auch haben, denn Castro hat gerade erst seinen Vertrag beim BVB vorzeitig verlängert. Bis 2020. Dann wird er 33 . . .

Es ist eine ungewöhnliche, vielleicht sogar eine außergewöhnliche Laufbahngestaltung, für die sich der vielseitige Mittelfeldspieler entschieden hat. Und an deren Ende trotz vieler Angebote und anderer Optionen vielleicht nur zwei Vereine stehen werden: Bayer 04 Leverkusen und Borussia Dortmund. 16 Jahre lang hat Castro unter dem Bayer-Kreuz gespielt; zwei Jahre sind es jetzt beim BVB, drei weitere sind vertraglich fixiert. Von seinem Geburtsort Wuppertal aus würde Castro sich dann einmal 30 Kilometer Luftlinie in Richtung Südwesten und einmal 40 Kilometer Luftlinie nach Nordosten bewegt haben. Anders als auf dem Spielfeld ist dieser Aktionsradius überschaubar. Deshalb reden wir zuallererst auch über . . .

. . . Kontinuität und Konstanz:

„Es ist ja offensichtlich, dass ich eher nicht der Typ Wandervogel bin. Ich habe so lange in Leverkusen gespielt, weil ich mich dort sehr wohl gefühlt habe. Der Wechsel nach Dortmund entsprang dann aus dem Impuls heraus, meinem Fußballleben einen neuen Kick geben zu wollen, noch einmal einen anderen Dreh. Aber auch bei dieser Entscheidung habe ich nicht zuletzt auf meinen Bauch gehört. Ganz wichtig war, dass ich beim BVB von vorneherein das Gefühl hatte: Das passt! Und so hat es sich ja dann auch herausgestellt.“

Wobei der Routinier in Dortmund keinen Kaltstart von 0 auf 100 hingelegt hat. Ein wenig Anlauf- und Anpassungszeit er benötigt. Grund dafür waren weniger der neue Klub, die neue Stadt, die neuen Teamkollegen, der neue Trainer. Grund war vielmehr . . .

„. . . dass der Wechsel von Leverkusen nach Dortmund eine Nummer größer war als ich selbst gedacht habe. Was ich sagen will, ist: Ich war 27, hatte jahrelange Bundesliga-Erfahrung, habe mit Leverkusen regelmäßig international gespielt, auch gegen die ganz großen Klubs. Ich hatte ja auch zig Mal gegen den BVB gespielt. Eigentlich kennt man das alles ja. Aber dann kommst du zur Borussia – und plötzlich spürst du, was dieser Begriff „Traditionsklub“ wirklich bedeutet. Hier in Dortmund ist nicht ein- oder zweimal in der Woche Fußball. Hier ist Fußball sieben Tage die Woche, 24 Stunden am Tag. Diese Energie, die fließt, ganz egal wohin wir kommen – das ist der Wahnsinn, und das war auch für einen erfahrenen Spieler wie mich neu. Ich muss zugeben, dass ich das unterschätzt hatte. Ich musste das alles für mich selbst sortieren. Heute sage ich: Es ist eine Riesenerfahrung, bei diesem Verein spielen zu dürfen.“

Inzwischen hat sich Gonzalo Castro längst eingelebt. Sportlich hat er sich durchgesetzt. Castro ist Stammspieler. Wobei Stammspieler bei einem Klub Borussia Dortmund nicht bedeutet, dass man grundsätzlich in der Startelf steht und grundsätzlich 90 Minuten durchspielt.

Gonzalo Castro über den internen Konkurrenzkampf:

„Die Zeiten, in denen Spitzenteams 13 oder 14 Stammspieler hatten, sind vorbei. Bei uns sind es eher 20 oder 22 – und die brauchst du auch, wenn du in drei Wettbewerben um Titel mitspielen willst. Im Extremfall sind das in Bundesliga, Champions League und DFB-Pokal über 50 Partien. Bei vielen Spielern kommen Länderspielreisen und Turniere dazu. Natürlich möchtest du als Fußballer am liebsten jedes Spiel machen. Ich bin bis heute – Verletzungen ausgenommen – auch noch nie zum Trainer gegangen und habe gesagt, ich würde heute lieber mal zuschauen. Aber ich habe auch kein Problem damit, wenn der Trainer es so entscheidet. Da steht der Erfolg der Mannschaft einfach im Vordergrund.“

Apropos Mannschaft: Castro sieht sich vor allem als Teamplayer:

„Ich versuche auf dem Platz immer, meine Kreativität einzubringen, um Spielsituationen aufzulösen, Lösungen zu finden und dann entweder selbst in torgefährliche Positionen zu kommen oder meine Nebenleute gut in Szene zu setzen und Assists zu geben. Da ich nach einem Spiel schlecht schlafen kann, gucke ich die meisten Spiele noch einmal an und analysiere, was ich hätte besser machen können. Die TV-Perspektive ist einfach eine völlig andere als die, die man unten auf dem Rasen hat. Und die Perspektive der Zuschauer ist – abhängig davon, wo sie stehen oder sitzen – noch einmal ganz anders.“

Und apropos Erfolge: Für einen Spieler seiner Qualität stehen definitiv zu wenig Titel auf der Visitenkarte von Gonzalo Castro. 2009 wurde er Europameister mit der U21. Im Finale gegen England, bei dem Marcel Schmelzer in den Schlussminuten eingewechselt wurde, erzielte Castro das Führungstor zum 1:0. Es folgten zwei Vize-Meisterschaften und zwei DFB-Pokal-Finalteilnahmen – je einmal im Trikot von Bayer 04 und dem BVB.

Diese Bilanz treibt Gonzalo Castro natürlich um. Zumal er in diesem Jahr 30 wird und die letzten Etappen seiner Laufbahn vor sich hat. Die Bilanz treibt ihn aber auch an:

„Am Ende sind es Erfolge, für die du Sport treibst. Erfolge muss man nicht zwingend in Titeln definieren. Wenn nach dem personellen Umbruch im vergangenen Sommer am Ende dieser Saison die Champions-League-Qualifikation stünde, wäre das für unsere stark verjüngte Mannschaft unbestritten ein Erfolg. Aber ich müsste lügen, wenn ich behaupten würde, dass die Aussicht auf Titel nicht auch ein Grund für meinen Wechsel nach Dortmund war. Der BVB ist ein Klub der potenziell in jedem Jahr in mehreren Wettbewerben ganz vorne mitspielt. Ich möchte hier gerne noch etwas gewinnen. Für mich – und für unsere großartigen Fans.“

Wenn noch nicht in dieser Saison, dann spätestens in der nächsten. Denn 2017/18, da ist sich Gonzalo Castro sicher, wird Borussia Dortmund noch stärker sein als jetzt schon. Warum? – Darum:

„Wir haben so unglaublich viel Talent in unserem Kader. Die vielen jungen Spieler haben in der laufenden Saison wichtige Erfahrungen gesammelt. Sie wissen jetzt, wie es ist, während der vielen englischen Wochen kaum trainieren zu können, dafür aber in drei verschiedenen Wettbewerben im drei Drei-Tage-Rhythmus Topleistungen abrufen zu müssen. Sie kennen das Umfeld, haben sich eingewöhnt, wissen, was der Trainer erwartet. Sie haben gelernt, mit dem internen Konkurrenzkampf umzugehen. Das alles wird selbstverständlicher; Automatismen greifen. Das sind wichtige Entwicklungsschritte, die dazu führen werden, dass unsere Leistungen konstanter werden. Für mich ist jedenfalls klar, dass wir in der nächsten Saison angreifen wollen.“

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