Borussias zweite Gelbe Wand

Schon vor der Südtribüne türmt sich eine Mauer auf: Papa Sokratis! Doch der große Grieche hat auch eine nachdenkliche Seite . . .

Lange, sehr lange hatte er den Ärger in sich hineingefressen. Kurz vor Ablauf der Verlängerung im DFB-Pokal-Krimi gegen Hertha BSC platzte dem Papa dann der Kragen. Aus Verärgerung über die Zeitschinderei der Berliner holte er sich erst Gelb ab. Und weil er sich einfach nicht beruhigen konnte, gab’s Gelb-Rot gleich obendrauf. „Ich kann mich an wenige Platzverweise erinnern, die unnötiger waren“, befand Trainer Thomas Tuchel. Verständlicherweise! Und doch machte Sokratis Papastathopoulos mit dieser Szene einen weiteren Schritt in Richtung „Unsterblichkeit“. Denn genau für diese Emotionen und diese Authentizität lieben ihn die Fans. Papa ist, keine Frage, auf dem besten Weg zum nächsten Dortmunder Kult-Spieler.

„Klar“, sagt Sokratis mit ein wenig Abstand, „in der Situation habe ich überreagiert. Das darf gerade mir als erfahrenem Spieler nicht passieren.“ Andererseits: „In der Bundesliga gibt es Spieltag für Spieltag schlimmere Vergehen, die nicht einmal mit Gelb bestraft werden.“ Was er nicht sagt: Hätte Schiedsrichter Deniz Aytekin in dieser 118. Minute ein wenig mehr Fingerspitzengefühl gehabt, wäre Papa mit einer Verwarnung zuzüglich einer letzten Ermahnung davongekommen . . .

Was den eigentlich so ruhigen, beherrschten, manchmal regelrecht unterkühlt wirkenden Griechen überhaupt so aufgeregt hat: „Wenn ich auf dem Platz stehe, will ich Fußball spielen. Hertha aber wollte das Spiel nur unterbrechen. Die Nettospielzeit in der Verlängerung betrug fünf oder sechs Minuten. So etwas geht mir auf die Nerven! Und irgendwann muss es dann raus!“

Fußball spielen will er also. Fußball arbeiten meint er. Fußball kämpfen. Sokratis ist der Typ Spieler, der dafür nicht viel braucht. Eine Wiese. Einen Ball. Und zwei Tore. Die Tore braucht er aber nicht, um den Ball hinein zu schießen. Er braucht sie als Orientierung. Um den Gegenspieler fern zu halten. Wo ein Tor steht, da darf der Gegner nicht hin. So einfach ist Papa-Fußball.

Und Papa-Fußball ist Männerfußball. Kompromisslos interpretiert er seinen Sport. Seit Sokratis beim BVB spielt, seit 2013 also, gibt es im Signal Iduna Park zwei Gelbe Wände. Die eine ist aus Beton. Auf ihr finden 25.000 und ein paar Menschen Platz. Die Gegner fürchten diese Wand, weil sie furchterregend laut werden und die Energie eines ganzen Kraftwerks auf ihre schwarzgelbe Mannschaft übertragen kann. Die andere Wand ist aus Fleisch und Blut. Sie trägt die Rückennummer 25. Sie heißt Papa Sokratis, und die Gegner fürchten sie, weil es weh tun kann, gegen diese Wand zu laufen.

Mag sein, in vielen anderen Vereinen wäre Sokratis einfach Sokratis. Bei Borussia, wo Innenverteidiger – früher: Manndecker – stets einen ganz besonderen Status genossen haben, ist das anders. „Abräumen“ war in Dortmund schon immer ein Qualitätsmerkmal. Wolfgang „Stopper“ Paul war ein Abräumer, Julio Cesar ebenfalls – wenn auch ein technisch versierter. Jürgen Kohler stieg als Abräumer zum „Fußball-Gott“ auf. Und nun also Papa Sokratis. Einer, den die Fans irgendwann einmal mit Ovationen verabschieden werden. Und jedes Jahr, das er länger beim BVB bleibt, wird die Ovationen um mehrere Minuten verlängern. Dabei beruht die Begeisterung auf Gegenseitigkeit. „Ich fühle mich in Dortmund total wohl“, versichert Papa. Der Verein ist großartig, die Fans sind großartig. Ich habe hier alles, was ich brauche, um glücklich zu sein.“ Wenn jetzt noch der eine oder andere Titel hinzu kommt . . .

„Erfolg ist natürlich eine wichtige Komponente“, sagt Sokratis. „Und Titel sind letztlich der Lohn für all die Anstrengungen. Sie sind der Nachweis dafür, dass du als Sportler etwas erreicht hast.“ Seinem Arbeitgeber attestiert er nach dem personellen Umbruch dank einer Vielzahl hochtalentierter Spieler „herausragend gute“ Zukunftsperspektiven. Und für sich selbst hat er aus der Verjüngungskur im Kader eine zusätzliche Aufgabe definiert, die mit einem veränderten Rollenverständnis einhergeht: der „Papa“ als Papa-Ersatz.

„Ich war ja selbst noch ein Kind, als ich für den Fußball von zu Hause weggegangen bin. Mit 20 bin ich ins Ausland gewechselt. Ich weiß also, wie unsere jungen Talente sich fühlen. Deshalb suche ich die Nähe zu ihnen und versuche, ihnen zu helfen. Im Laufe meiner Karriere habe ich bei einem halben Dutzend Klubs gespielt, hatte mehr als Dutzend Trainer und wahrscheinlich um die 150 Teamkollegen. Das bedeutet in Summe einen ziemlichen Erfahrungsschatz, den ich gerne weitergeben möchte.“

Erfolge also sind Sokratis‘ Maßstab – Geld ist es eher nicht. Dass man als Fußballer viel Geld verdient, sagt er, sei ein Privileg. „Es ist für mich aber nicht das Wichtigste. Die Wertschätzung, die ich hier in Dortmund erfahre, bedeutet mir sehr viel mehr. Sie erfüllt mich mit Stolz und Zufriedenheit. Deshalb wird Dortmund immer in meinem Herzen sein. In einem Punkt dürfen sich alle absolut sicher sein: Sollte ich den BVB irgendwann verlassen, wird Geld dabei keine Rolle spielen. Dann wird es allein um Herausforderung und Erfolg gehen.“

29 Jahre wird Papa Sokratis am Ende dieser Saison alt sein. Vier, fünf Jahre auf Top-Niveau sind dann immer noch drin. Und danach? „Mit 34, spätestens mit 35 ist Schluss. Definitiv werde ich dann nach Griechenland zurückkehren. Meine Familie und meine Heimat fehlen mir. Ich werde erst einmal eine Auszeit einlegen, relaxen, die Zeit mit Freunden genießen. Vielleicht kehre ich danach in den Fußball zurück – aber definitiv nicht als Trainer.“ Warum nicht? – „Als Trainer musst du den ganzen Tag über kommunizieren. Mit 25 oder 30 Spielern, mit der Klubführung, mit den Medien. Das ist der eine Grund. Der andere: Trainer machen zwangsläufig immer auch Spieler unglücklich. Und Menschen unglücklich machen – sorry, das kann ich einfach nicht!“

Der Papa spricht nicht viel – dafür aber vier Sprachen

Er ist kein Mann der vielen Worte. Sprache setzt Papa Sokratis – sagen wir mal: ökonomisch ein. So, als hätte er nur ein begrenztes Kontingent an Buchstaben zur Verfügung, um Wörter und Sätze daraus zu bilden. Dabei ist der „Schweiger“ ein echtes Sprachtalent. Neben seiner Muttersprache Griechisch spricht er ziemlich gut Englisch und viel besser Deutsch, als er’s erkennen lässt. Wenn das ein Trick ist, um Reporter-Mikrofonen gelegentlich aus dem Weg gehen zu können, funktioniert er perfekt.

Italienisch gehört außerdem zu Papas Repertoire – und zwar fließend. Der Grund: Im Alter von 20 Jahren wechselte Papa im Sommer 2008 von AEK Athen, wo er wenige Monate zuvor jüngster Kapitän der Klubgeschichte geworden war, zu CFC Genua in die Serie A. Drei Jahre lang spielte er in Italien, wurde 2010 mit dem AC Mailand sogar Meister – kam dabei über den Status des Ergänzungsspielers aber nicht hinaus. Statt nach Genua zurückzukehren, entschied sich der junge Grieche für Deutschland. Über Werder Bremen kam er 2013 schließlich zu Borussia Dortmund. Sein Vertrag beim BVB läuft bis zum 30. Juni 2019. Dann ist er 31 – bestes Verteidigeralter.

Als Messi in Papas Schatten verschwand

Wenn sich ein Hüne wie Papa Sokratis vor einem Zwerg wie Lionel Messi aufbaut, kann sich der Kleine im Schatten des Großen prima verstecken. Bei der WM 2010 in Südafrika kam es genau zu dieser Konstellation. Griechenland traf im letzten Gruppenspiel auf Argentinien. Trainer Otto Rehagel hatte sich in den Kopf gesetzt, ein 0:0 zu ermauern und auf nigerianische Schützenhilfe gegen Südkorea zu hoffen.

Mit der Aufgabe, den damals noch jungen Weltstar Lionel Messi auszuschalten, betraute „Rehhakles“ den damals noch jüngeren Sokratis Papastathopoulos. Und der machte seine Sache so brillant, dass Messi über weite Strecken der Partie unsichtbar blieb. 77 Minuten lang ging die Rechnung auf. Dann trafen Demichelis und Palermo doch noch zum 2:0 für die Südamerikaner.

Seinen größten internationalen Erfolg feierte Papa Sokratis übrigens bei der U19-EM 2007. Als Kapitän führte er das griechische Team bis ins Finale gegen Spanien (0:1). Dabei schaltete Griechenland im Halbfinale die DFB-Auswahl (u.a. mit Höwedes, J. Boateng, Özil) mit 3:2 aus. Gemeinsam mit Sotirios Ninis und Konstantinos Mitroglou wurde Papa ins All-Star-Team gewählt. Jener Mitroglou, der jetzt bei Benfica Lissabon spielt und im Hinspiel des CL-Achtelfinales das einzige Tor erzielte – gegen den BVB. Und gegen Papa.

 

Marcel Schmelzer – der Hundertprozentborussiakapitän!

​Schmelle also!

Und nicht Marco Reus.

Die Kapitänsfrage bei Borussia Dortmund, die eigentlich gar keine war, in der nachrichten-armen Winterpause dann aber plötzlich eine wurde, ist beantwortet. Und die Antwort ist korrekt. Nicht, dass Reus als Spielführer eine Fehlbesetzung wäre. Ganz und gar nicht. Er wäre gleichfalls eine Top-Wahl. Aber Marcel Schmelzer ist die Toptop-Wahl. Und das hat Gründe. Zu denen komme ich gleich.

Vorab ein Blick zurück:

Die Liste der Spieler, die BVB-Mannschaften aufs Feld führten, ist gleichermaßen lang wie illuster. Adi Preißler gehört dazu, dann der unlängst verstorbene Aki Schmidt, Stopper Paul, Sigi Held und Hoppy Kurrat – allesamt 66er Europapokal-Helden. Später folgten, um nur einige zu nennen, Lothar Huber, Manni Burgsmüller, Frank Mill, Stefan Reuter, Sebastian Kehl, zuletzt Mats Hummels und zwischendrin natürlich Michael „Suuusiii“ Zorc. Wer auch immer die Armbinde überstreift, heute oder in Zukunft, tritt in große, sehr große Fußstapfen.

Marcel Schmelzers gar nicht mal so große Füße sind ausreichend groß und seine gar nicht mal so breiten Schultern breit genug, um der Verantwortung, die dieses Amt bei einem so traditions- und ruhmreichen Klub wie dem BVB naturgemäß mit sich bringt, gerecht zu werden. Den Nachweis hat er in den vergangenen Jahren immer und immer wieder angewiesen – schon zu Zeiten, da Kehl und Hummels noch Kapitän waren.

Was für Schmelzer spricht:

1.) Seine 100-prozentige Identifikation mit dem Klub. Schmelzer kam mit 17 Jahren als A-Jugendlicher aus Magdeburg zum BVB. Er zog ins Jugendhaus ein, diente sich über die „Amas“ hoch, wo Jürgen Klopp sein Talent erkannte und ihn in den Profikader holte. Schmelle gehörte zu dem Haufen der jungen Wilden, die Fußball-Deutschland insbesondere in den Jahren 2011 bis 2013 mit „Vollgasfußball“ verzückten. Meister 2011, Doublesieger 2012, Champions-League-Finalist 2013. Erst kürzlich gab er erneut ein Treuebekenntnis ab: „Ich möchte als der Spieler in Erinnerung bleiben, er seine gesamte Profilaufbahn beim BVB verbracht hat“, sagte er. Dass Ehefrau Jenny dieselbe enge Verbindung zu Dortmund und zur Borussia lebt, rundet das Bild ab. Gemeinsam engagieren sich die beiden außerdem für den Verein Tierschutzprojekt Italien e.V.

2.) Marcel Schmelzer ist ein Mentalitäts-Monster. Gewiss, wir alle haben schon weniger gute Spiele von ihm gesehen. Und auch wenige gar nicht gute. Ich glaube aber nicht, dass auch nur einem von uns ein Spiel einfällt, in dem Schmelle den Eindruck hinterlassen hat, er habe nicht alles gegeben. Marcel Schmelzer ist der Spieler, der auch dann noch an den Erfolg glaubt, wenn die regulären 90 Minuten abgelaufen sind und dem BVB noch zwei Tore zum Weiterkommen fehlen. Wie an jenem 9. April 2013 im Champions-League-Viertefinale gegen den FC Malaga, als der Linksverteidiger auch nach dem späten 1:2 in schier aussichtloser Situation noch mit jeder einzelnen Körperbewegung signalisierte: Das hier ist noch nicht zu Ende! Nuri Sahin hat mir später mal erzählt, sein „Schlüsselmoment“ in dieser Partie sei der Moment unmittelbar nach Malagas Trefer zum 1:2 gewesen. Er habe Schmelzer, der wegen eines Nasenbeinbruchs mit Gesichtsmaske spielte, in die Augen geschaut. „Wie Schmelle mich in diesem Moment angesehen hat – da wusste ich: Wir können es schaffen! Er hat so fest daran geglaubt, und ich habe von dem Moment an nur noch gedacht: Klopp‘ die Bälle lang nach vorne!“ Kurzum: Mehr BVB, als Marcel Schmelzer in diesen zwölf Minuten zwischen 82. und 94. Minute verkörperte, geht gar nicht!

3.) Wenn man sich die Stadt Dortmund und die Borussia mit allem, was sie ausmachen, als Fußballer vorstellt, käme Marcel Schmelzer dabei heraus. Kein Glamour-Kicker, kein Zauberfüßchen – eher einer, der Fußball arbeitet und dem auch schon einmal ein Ball verspringt. Einer, der seine Höhen hat – der aber auch Niederschläge wegstecken musste. Und wieder aufgestanden ist. Dass Erik Durm sich „Weltmeister“ nennen darf, wenn auch ohne Einsatz, und Marcel Schmelzer nicht, das ist – bei allem Respekt vor Durm – im Grunde ein Treppenwitz der Fußball-Geschichte. Bundestrainer Jogi Löw, in Dortmund auch deshalb ungefähr so beliebt wie Franck Ribery, Arjen Robben und Gerald Asmoah, steht nicht auf Schmelle. Er hat ihn sogar öffentlich abgewatscht, als er befand, man könne sich schließlich „keine Außenverteidiger backen“. Schmelzers Beliebtheit und sein Ansehen bei den eigenen Fans hatte die Löwsche Ignoranz nur noch mehr gesteigert. Motto: Wer Schmelzer nicht will, hat Schmelzer nicht verdient!

4.) Nirgendwo steht geschrieben, dass man ein Lautsprecher sein muss, um Spielführer zu werden. Ein Lautsprecher ist Marcel Schmelzer nicht. Das heißt aber im Umkehrschluss noch lange nicht, dass er nicht sein Wort macht. Schmelles Wort hat Gewicht in der Kabine. Und Schmelle duckt sich nie weg. Wenn andere nach Niederlagen mit Kopfhörern im Ohr hurtig an Kameras und Mikrofonen vorbei durch die Mixed-Zone huschen, stellt Schmelle sich den Fragen der Journalisten. Und wo sich andere in Gemeinplätze flüchten, redet er klare Kante und ist aufgrund seiner Erfahrung inzwischen auch in der Spielanalyse treffsicher. Es kommt ja nicht von ungefähr, dass „Manni“ Bender, einer also, auf den viele Eigenschaften zutreffen, die auch Schmelzer auszeichnen, kurz vor der offiziellen Verlautbarung unmissverständlich erklärte: „Ich persönlich brauche das Thema nicht und es wird auch größer gemacht, als es ist. Innerhalb der Mannschaft ist es keines. Marcel Schmelzer ist unser Kapitän, fertig aus!“

Dem ist nichts hinzuzufügen. Marcel Schmelzer ist und bleibt Kapitän von Borussia Dortmund.

Fertig.

Aus!

Der BVB und die Emotionen: Ein Plädoyer für mehr Personenkult

Gerade eben haben Sprachwissenschaftler „Volksverräter“, eine Vokabel, die der rechte Mob gerne verwendet, um demokratisch denkende und handelnde Menschen zu diffamieren, zum Unwort des Jahres 2016 gekürt. Wie in jedem Jahr kann man über die Wahl trefflich diskutieren, zumal jedem von uns auch noch eine Reihe weiterer Begriffe einfallen, die das „Unwort“-Prädikat verdient hätten. Mir als Anhänger der schwarzgelben Borussia zum Beispiel: „Entemotionalisierung“.

Diese merkwürdige Borussia-Müdigkeit
Entemotionalisierung beklagen viele und gefühlt immer mehr BVB-Fans im zwischenmenschlichen Verhältnis zum Klub ihrer Wahl. Größere Teile des vergangenen Wochenendes habe ich im Kreise von knapp zwei Dutzend Leuten verbracht, die von sich selbst mit Fug und Recht behaupten dürfen, genau das zu sein, was man landläufig unter „eingefleischten“ Fans versteht. Nicht nur Dauerkarteninhaber. Nicht nur Auswärts-Vielfahrer. Sondern darüber hinaus in ihrer Freizeit ehrenamtlich rund um Borussia Dortmund engagierte Menschen, für die Schwarzgelb neben ihren Familien und oft noch vor ihren Berufen DER zentrale Lebensinhalt ist. Fast unisono schilderten sie eine irgendwie merkwürdige, latente BVB-Müdigkeit und machten dieses mit Worten schwer zu beschreibende Phänomen daran fest, dass sich Borussia aktuell nicht mehr so intensiv anfühlt wie noch vor zwei, drei, vier Jahren.

Kommerzialisierung und Übersättigung
Nun sind die Gründe dafür vielfältig. Natürlich hat das etwas zu tun mit der zunehmenden Kommerzialisierung und Internationalisierung des Fußballs. Selbst wenn sich die Klubführung des BVB noch so große Mühe gibt, die „Nähe zum Borsigplatz“ über die Annäherung an Märkte in Asien und Übersee zu stellen, nimmt die Distanz zwischen der 400-plus-x-Umsatzmillionen schweren Kommanditgesellschaft auf Aktien und der Fan-Basis doch zu. Natürlich hat das auch etwas zu tun mit einer zunehmenden Übersättigung der Anhänger mit dem Grundnahrungsmittel Fußball. Immer mehr und immer aufgeblähtere Wettbewerbe senken das Fieber und killen die Vorfreude – ganz aktuell: Die aberwitzige Entscheidung der komplett entrückten, geld- und machtgeilen FIFA-Bosse, die Weltmeisterschaft 2026 auf 48 Nationen aufzustocken und uns auf diese Weise Vorrunden-Highlights zwischen Burkina-Faso und den Galapagos-Inseln oder zwischen Tibet und Katar zu bescheren. Oder der Wahnsinn, dass Sender wie Sport 1, Online-Portale per Livestream oder sogar die Vereine selbst auf ihren Websites inzwischen jeden noch so müden Test-Kick in Echtzeit übertragen. Wenn ein mittelmäßig spannender Bundesligist in seinem Trainingslager irgendwo in Asien ein freundschaftliches Bewegungsspielchen gegen den FC Kartoffelacker Kathmandu aus der ersten nepalesischen Profiliga austrägt, ist garantiert irgendein Anbieter mit einem Kamerateam vor Ort.

Braucht man das? Braucht man nicht!

Und dann machen viele Fans die Entemotionalisierung natürlich auch am Weggang von Jürgen Klopp fest, der fleischgewordenen Emotion. Klopp hat uns Borussen, zugegeben, sieben Jahre lang verwöhnt. Mit seinem Lachen, seinen Tränen, seinem Humor und Esprit, seinen Wutausbrüchen, seinem Jubel, seiner Hyperaktivität, seinen emotionalen Ausbrüchen, seiner Authentizität. Kurzum: mit seinem Menschsein! Nun ist er weg. Das kann man beklagen. Er ist nun allerdings auch schon seit eineinhalb Jahren weg. Und er wird, ziemlich sicher, so schnell auch nicht zurückkehren. Vielleicht – und die Wahrscheinlichkeit ist eher hoch als gering – wird er überhaupt nie mehr als Trainer an die Strobelallee zurückkehren. Deshalb könnte man jetzt auch allmählich mal aufhören, Klopps Abhandenkommen zu beklagen. Zumal, meine Meinung: Der Trainer muss im Sport durchaus nicht der emotionale Vorturner sein.

Wir Fans sind verwöhnt und dekadent geworden
Vielleicht, und darüber denke ich in letzter Zeit häufig nach, tragen wir Fans auch selber ein gerüttelt Maß Schuld an diesem Phänomen der Entemotionalisierung. Wir gebärden uns bisweilen wie verwöhnte und verhätschelte Millionärskinder in US-amerikanischen College-Filmen. Weil wir 2011 Meister waren, 2012 das Double gewonnen haben, 2013 im Champions-League-Finale standen und 2014, 2015, 2016 im DFB-Pokal-Endspiel, sind Titel das Maß der Dinge und Finalteilnahmen normal geworden. Manch ein Fan hat inzwischen „keinen Bock mehr, schon wieder nach Berlin zu fahren“. Wie dekadent ist das denn?! Merken wir eigentlich noch was?! Sind wir eigentlich noch Borussen oder schon Bauern? Ein Finale ist IMMER etwas Besonderes. Es ist NIEMALS normal. NIEMALS Alltag. Für die da unten in München vielleicht, aber doch nicht für uns hier oben in Dortmund.

Jürgen Klopp hat in seinem Gastbeitrag für eines meiner Bücher („Jetzt muss ein Wunder her – Die 25 größten Spiele im Fußball-Tempel des BVB“) geschrieben, was ihn am Westfalenstadion und den BVB-Fans am meisten fasziniere, sei die einzigartige atmosphärische Wechselwirkung zwischen dem Geschehen auf dem Spielfeld und der Stimmung auf den Rängen. In Dortmunds Tempel herrsche eben nicht per se eine tolle Atmosphäre, sondern stets in Abhängigkeit vom Spiel. Das sei, so Klopp, in besonderer Weise ehrlich und authentisch. Was er meinte ist: Manchmal spielt die Mannschaft spektakulär gut – und die Stimmung schwappt über vom Feld auf die Fans. Manchmal aber spielt die Mannschaft auch spektakulär schlecht, wie bisweilen im letzten Klopp-Jahr – und die Stimmung schwappt dann trotzdem über, nur umgekehrt von den Tribünen auf den Rasen, weil die Fans spüren, dass ihr Team sie gerade jetzt braucht. Und manchmal schweigt ein ganzes, mit 81.357 Menschen gefülltes Stadion, weil die Nachricht eines dramatischen Todesfalls auf einer der Tribünen die Runde macht und die Sensibilität und der Respekt der Zuschauer ihren Drang zur Anfeuerung überlagern.

Wann sind wir eigentlich zuletzt richtig steil gegangen?
Aber seien wir doch mal ehrlich zu uns selbst: Wann haben wir Fans von Borussia Dortmund die Hütte letztmals so richtig gerockt? Wann waren wir letztmals so laut, dass dem Gegner schon im Spielertunnel der Darminhalt flüssig geworden ist?
Beim Derby? – Eher nicht!
Beim Sieg über die Bauern? – So richtig steil gegangen sind wir da doch auch nicht.
Gegen Real? – War okay. War aber auch schon einmal anders.

Blöderweise werden wir Trends wie die Kommerzialisierung und die Übersättigung nicht zurückdrehen. Und Klopp ist in Liverpool gerade auch nicht ganz so unglücklich. Die Frage stellt sich also: Was können wir selbst tun, um Spiele von Borussia Dortmund wieder zum emotionalen Orgasmus zu treiben? Meine Antwort: Wir brauchen mehr Personenkult! Das löst das Problem nicht in Gänze, wirkt aber gegen einige Symptome.

Spieler und Trainer kommen und gehen . . . Ja, aber!
Nun ist Personenkult unter BVB-Fans und gerade in der aktiven Fanszene blöderweise einigermaßen verpönt. Viel mehr übrigens als bei den allermeisten anderen Klubs. Nicht etwa, dass die Anhänger hier nicht auch ihre Lieblinge hätten. Äußerst selten aber, dass sie einzelne Akteure, etwa durch Anfeuerung oder individuelle Fangesänge während des laufenden Spiels, herausheben. Wenn überhaupt, dann allenfalls bei ihrer Ein- oder Auswechslung. Und Ikonen wie Jürgen Kohler eine war und Dédé immer noch eine ist, sind die absolute Ausnahme. Selbst Sebastian Kehl reichte da, bei aller Wertschätzung, nicht heran. Hinter alledem steckt eine grundsätzliche Haltung: Niemand ist größer als der Verein! Spieler und Trainer kommen und gehen – doch Borussia Dortmund bleibt bestehen! Diese Maxime ist gewissermaßen unsichtbar in den Beton der Stadiontribünen gemeißelt.

Ich kann dieser Einstellung viel abgewinnen. Zumal das einzige mir bekannte Abrücken, die irrationale Überhöhung der Figur Jürgen Klopp, am Ende ungesunde Ausmaße angenommen hatte. Manche hielten Klopp für größer als den BVB. Was natürlich völliger Unfug ist. Und dennoch: In einer Phase, in der Fans aufgrund anderer Effekte, auf die sie wenig oder keinen Einfluss haben, eine Entemotionalisierung beklagen, stehen sie sich mit diesem Anti-Personenkult selbst im Weg. Klar, Fußball ist ein Vereinssport, ist ein Mannschaftssport. Fußball ist aber auch ein Spielersport. Und es ist ja nicht so, als hätte der BVB keine Spieler mehr im Kader, die sich der besonderen Zuneigung der Anhängerschaft erfreuen. Die sich diese Zuneigung auch redlich verdient haben. Etwa, weil sie in schweren Zeiten zum Klub gehalten und/oder mit Borussia Erfolge gefeiert haben. Weil sie nach Experimenten bei anderen Vereinen geläutert zurückgekehrt sind. Weil sie durch langjährige Klubzugehörigkeit Treue nachgewiesen haben. Oder einfach nur deshalb, weil sie sich Spiel für Spiel bedingungslos reinhauen . . .

Es gibt viele Gründe.

Ich meine, Ihr ahnt es, Roman Weidenfeller und Nuri Sahin, Manni Bender und Neven Subotic, Papa Sokratis und Lukasz Piszczek. Ich meine Marco Reus, und ganz besonders meine ich Marcel Schmelzer, der durch seine Körpersprache signalisiert, dass er auch dann noch an den Erfolg glaubt, wenn die 90 Minuten um sind und der BVB zum Weiterkommen noch zwei Tore benötigt. Schmelzer gegen Malaga: Mehr Borussia Dortmund geht nicht!

Erobern wir uns doch die emotionalen Momente zurück!
Nun werdet Ihr möglicherweise sogar sagen: Stimmt! Aber einige der genannten Akteure spielen bei Thomas Tuchel aktuell und vielleicht auch in Zukunft keine große Rolle. Sie bekommen, wenn überhaupt, nur geringe Einsatzzeiten. Und ich sage: Na und?!!! Dann genießen und feiern wir eben jede einzelne Minute mit ihnen und erobern uns über diese – Achtung, Unwort! – „Gänsehaut“-Sequenzen das zurück, was uns offenbar ein Stück weit abhanden gekommen ist: die Identifikation und die hoch emotionalen Momente. Und wenn Weidenfeller aufhört? Und Neven den Klub wechselt? Dann wachsen andere nach. Warum soll nicht Roman Bürki ein Fanliebling der Zukunft werden? Oder Julian Weigl, der es eigentlich ja heute schon ist? Ich glaube – und meinetwegen verprügelt mich dafür –, dass sogar Mario Götze mittelfristig wieder in eine solche Rolle hineinwachsen kann.

Also:

Wenn der Fußball es – hoffentlich nur vorübergehend – nicht (mehr) schafft, uns anzufixen, ist das die eine Sache. Wenn es aber auch die Fußballer nicht mehr schaffen, uns zu emotionalisieren; und wenn wir es umgekehrt nicht mehr schaffen, über die Fußballer den Fußball zu emotionalisieren: Dann erst hätten wir ein wirklich ernsthaftes Problem.

André Schürrle: Der Mann für die besonderen Momente

 

(Text für „ECHT“, Ausgabe 117)

Eckfahne möchte man auch nicht sein!

86 Minuten und 21 Sekunden waren gespielt im Champions-League-Klassiker zwischen Borussia Dortmund und Real Madrid, als Christian Pulisic den Ball vom rechten Strafraumeck gefühlvoll in die Mitte löffelte. Vier Sekunden später, bei 86:25, zappelte das Leder im Netz. André Schürrle hatte den Ball mit der linken Klebe buchstäblich in den Winkel genagelt, war Richtung Südost-Eckfahne gerannt und hatte die bedauernswerte Kunststoffstange mit einem Kung-Fu-Tritt umgelegt. Es war ein typischer André-Schürrle-Moment. Also nicht der Tritt – sondern das Tor!

„Ganz ehrlich“, sagt Schürrle, „von so einem Moment hatte ich geträumt, seit ich im Sommer beim BVB unterschrieben habe. Wenn du zum ersten Mal in dieses Stadion einläufst, die Südtribüne hinaufblickst und einfach nur noch Gelb siehst, dann denkst du: Was muss das für ein geiles Gefühl sein, vor dieser Wand ein wichtiges Tor zu schießen!“ Sein Tor gegen Real war zweifelsfrei ein ganz wichtiges. Es war das 2:2. Es war das schwarzgelbe Signal an die Königsklasse: Wir sind wieder da! Nach einem Jahr Tingeltangel-Tour nach Wolfsberg, Odds, Qäbäla und Krasnodar spielen wieder im Konzert der Top-Klubs mit. Und wir sind auf diesem Top-Niveau konkurrenzfähig!

Dass ausgerechnet André Schürrle – Spitzname „Schü“ – den Ausgleich gegen den Champions-League-Rekordsieger und -Titelverteidiger erzielte, war alles andere als überraschend. Denn wer die Laufbahn des gebürtigen Ludwigshafeners verfolgt, der weiß: Schürrle ist ein Mann für entscheidende Situationen, für die „Magic Moments“. Während andere, gleichfalls hochveranlagte Profis immer wieder abtauchen, wenn’s wirklich wichtig wird, macht er in solchen Spielen häufig den Unterschied.

Als die deutsche Fußball-Nationalmannschaft bei der WM 2014 im Achtelfinale gegen Algerien von einer Verlegenheit in die nächste stolperte, war es André Schürrle, der das Spiel in der Verlängerung mit einem Zaubertor auf Sieg stellte. Und als beim Endspiel gegen Argentinien alle schon die Salzstangen als Nervennahrung fürs Elfmeterschießen griffbereit stellten, war es wiederum Schürrle, der auf der linken Seite Fernando Gago stehen ließ, Javier Mascherano abhängte, Pablo Zabaleta gar nicht mehr in den Zweikampf kommen ließ und den Ball mit links millimetergenau auf Mario Götze schaufelte.

Der Rest ist Fußball-Geschichte.

BVB-Trainer Thomas Tuchel weiß um diese ganz besondere Qualität von André Schürrle. Deshalb wollte er ihn im Sommer 2016 unbedingt von Wolfsburg nach Dortmund locken. Schürrle ist eben nicht nur schnell. Er hat nicht nur einen exzellenten linken Fuß und einen formidablen Wumms. Er ist nicht nur vielseitig einsetzbar – rechts wie links und auch zentral in der Spitze. Er ist nicht nur torgefährlich. Er ist vor allem dann torgefährlich, wenn’s drauf ankommt. Woran das liegt: „Vielleicht gelingt es mir einfach besonders gut, mich auf solche Momente zu konzentrieren“, sagt Schürrle. „Ich freue mich auf diese Spiele, bei denen du vorher schon weißt, dass sie durch Kleinigkeiten entschieden werden. Und ich vertraue mir da auch selbst, weil ich weiß, dass es in mir steckt, in entscheidenden Situationen eine entscheidende Aktion zu initiieren.“ Schon mit seinen beiden allerersten Bundesliga-Toren drehte er 2009 für Mainz 05 einen 1:2-Halbzeitrückstand beim VfL Bochum in einen 3:2-Sieg.

Hinzu kommt: Schürrle ist ein Kaltstarter. Die geschilderten Tore gegen Real, Algerien und Argentinien erzielte er allesamt als Einwechselspieler. Auch das ist eine außergewöhnliche Fähigkeit – und die kann Schürrle sehr gut erklären: „Natürlich“, sagt er, „möchte ich grundsätzlich immer von Anfang an spielen. Ich sehe mich nicht als ‚Joker‘. Aber ich gehöre auch nicht zu den Spielern, die in ihrer Ehre gekränkt sind und Frust schieben, wenn sie mal nicht in der Start-Elf stehen.“ Sein Credo lautet vielmehr: „Wenn du 20 oder auch erst 15 Minuten vor dem Ende eingewechselt wirst, musst du eben versuchen, in diesen 20 oder 15 Minuten etwas zu bewegen. Denn es geht hier nicht um dich persönlich, sondern um den Erfolg der Mannschaft und des Vereins.“

Nicht zaudern. Zupacken! Nicht lamentieren. Loslegen! Positiv sein. Ein Mix aus „Carpe Diem!“ und „Think pink!“ Mit dieser Einstellung wird André Schürrle in Dortmund den Nerv der Fans treffen. Dortmund und die Fans haben seinen Nerv längst getroffen. Im Grunde auf Anhieb. „Ich hatte ja schon viel über den BVB gehört – von Marco Reus und Mario Götze, auch von Mats Hummels. Und als sich die Möglichkeit ergab, nach Dortmund zu wechseln, haben alle in meinem Umfeld gesagt: Wahnsinn, das musst Du auf jeden Fall machen!“

Die Realität hat ihn dann aber doch noch einmal mehr geflasht, als er es für möglich gehalten hat. „Alles in dieser Stadt ist auf Borussia ausgerichtet. Die Menschen leben den BVB, sie laufen selbst im Alltag im Trikot herum. Bei Auswärtsspielen erwarten uns hunderte Menschen vor den Hotels, selbst in Asien drehen die Leute im positiven Sine durch. Das alles habe ich doch etwas unterschätzt.“ Klar, auch der FC Chelsea sei ein großer Klub mit langer Tradition, „aber die Fankultur hier in Dortmund – das ist noch einmal eine ganz andere Nummer“, sagt er.

André Schürrle ist im Pott angekommen. Die Mannschaft habe ihn „toll aufgenommen“. Dass er mit Marco Reus und Mario Götze eng befreundet ist, hat natürlich geholfen. Dass er mit beiden auch um die Positionen in der Offensive konkurriert, mit Reus mehr noch als mit Götze, findet er „überhaupt nicht problematisch, weil das im Fußball das Normalste auf der Welt“ sei. Dass er unter Trainer Thomas Tuchel mit der Mainzer U19 Deutscher Meister wurde und den Sprung in die Bundesliga schaffte: Ja, auch das sei ein Argument für den Wechsel nach Dortmund gewesen. Aber eben, und das ist ihm wichtig, nur  e i n  Argument. Eines von vielen. „Eine solche Entscheidung, die auf Jahre angelegt ist, fällst du ja nicht nur, weil du mit dem Trainer gut klarkommst.“ Da gehört schon mehr dazu. Insbesondere die sportliche Perspektive. Der Kick, den Duelle wie das gegen Real Madrid vermitteln. Das mit nichts zu vergleichende Gefühl, vor der Gelben Wand ein wichtiges Tor zu erzielen. „Davon bekommst du nie genug“, sagt André Schürrle. „Wenn du das einmal erlebt hast, dann willst du es wieder und wieder erleben.“

Nur zu. Die Fans des BVB haben ganz sicher nichts dagegen!

Schon zwei Titelgewinne  g e g e n  den BVB

André Schürrle hat als Fünfjähriger beim Ludwigshafener SC mit dem Fußballspielen begonnen. Mit 15 Jahren wechselte er zum 1. FSV Mainz 05, mit dem er 2009 Deutscher Meister wurde – unter Trainer Thomas Tuchel und gegen den BVB. Noch im selben Jahr feierte er sein Debüt in der Fußball-Bundesliga. Über Bayer Leverkusen kam der Offensivspieler 2013 zum englischen Topklub FC Chelsea, für den er gleich in seiner ersten Saison acht Treffer erzielte. Als die Londoner 2015 Meister wurden und den Liga-Pokal gewannen, war André Schürrle allerdings schon in Wolfsburg. Zur Titelfeier lud Chelseas Trainer José Mourinho in dennoch ein. Schürrle musste absagen – wegen des DFB-Pokalfinals, das er mit dem VfL Wolfsburg gewann. Gegen den BVB.

Übrigens: Seit seinem 2:2 gegen Real Madrid ist André Schürrle der einzige deutsche Fußballer, der in der Champions League für vier Klubs getroffen hat: Bayer Leverkusen, VfL Wolfsburg, FC Chelsea und Borussia Dortmund.

Das neue Ziel: Titelgewinne  m i t  dem BVB!

Weltmeister ist er schon. Deutscher Meister noch nicht. Deutscher Meister will er werden. „Das ist der Traum jedes Fußballers“, sagt André Schürrle. Das steht auch auf seiner persönlichen Wunsch- und Prioritätenliste ganz weit oben. Und „Schü“ ist überzeugt: „Hier in Dortmund geht das. Der Klub und die Mannschaft haben das Potenzial, Großes zu erreichen.“ Er habe, sagt der Neuzugang, „vom ersten Training an ein gutes Gefühl gehabt. In unserem Kader ist unglaublich viel Talent vereint, alle Positionen sind doppelt besetzt“. Zwar habe man „in den ersten Saisonspielen ein bisschen was liegen lassen“, nicht zuletzt aufgrund des personellen Umbruchs und etlicher Verletzungen, von denen auch er selbst betroffen war. „Aber wenn wir jetzt unsere Top-Form finden und Konstanz entwickeln“, sagt André Schürrle, dann sei mit diesem Team einiges möglich. „Auch schon in dieser Saison!“

Mario Götze: Zurückgekommen, um voran zu gehen!

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(Text für „ECHT“, Ausgabe 113)

Warschau. Mittwoch, 14. September. Der polnische Meister Legia empfängt am 1. Spieltag der Champions-League-Saison 2016/17 den deutschen Vizemeister Borussia Dortmund. Es läuft die siebte Spielminute. Ousmane Dembélé flankt den Ball vom linken Flügel zentral vor das Tor. Zwischen Guilherme und Vadis Odjidja-Ofoe schraubt sich Mario Götze in die Höhe. Der Dortmunder platziert den Kopfball zum 1:0 flach ins linke Eck. Götze dreht ab, läuft Arm in Arm mit Christian Pulisic in Richtung BVB-Fankurve, die Arme ausgebreitet, die rechte Hand zur Faust geballt, im Gesicht ein Strahlen wie aus einer Zahnpasta-Werbung. In derselben Sekunde läuft die Echtzeitmaschinerie der Online-Medien und Social-Media-Kanäle an. Götzes zwölftes Champions-League Tor. Das erste mit dem Kopf. Sein erster CL-Treffer für den BVB seit dem 2:0 gegen Donezk am 5. März 2013. Sein erstes Tor überhaupt für den BVB seit dem Doppelpack in Fürth vor exakt 1250 Tagen. Was man halt so wissen muss. ZDF-Reporter Boris Büchler möchte nach dem Spiel von Mario Götze wissen: „Auch ein Tor gegen die Kritiker?“ – „Nein, nein“, winkt der 24-Jährige amüsiert und lässig ab. „Ein Tor für die Mannschaft, für den Verein, für einen guten Start in die Champions-League. Das ist mir definitiv wichtiger!“

Zwei Tage zuvor in Hörde. Wir treffen Mario Götze am Phönix-See, einem der Vorzeigeprojekte für gelungenen Strukturwandel im Ruhrgebiet. „Wahnsinn, was hier in den letzten drei Jahren entstanden ist“, sagt er mit staunendem Blick. Und meint: In den drei Jahren, in denen er nicht in Dortmund war. Als er 2013 ging, war der Phoenix-See schon ein See – aber drumherum war noch nicht viel. Lehmberge, Schotter und Schlammpfützen vornehmlich, dazwischen Bagger und Baukräne. Inzwischen ist hier ein attraktives Wohn-, Büro- und Naherholungsgebiet entstanden; mit Hafen, Bootsanleger, Uferpromenade und Gastronomie. Und immer noch wird weiter gebaut.

 

Ein bisschen ist es am Phoenix-See wie bei der Borussia. Auch die ist im Spätsommer 2016 „under construction“. Eine Baustelle. Die zentrale Achse hat den Klub verlassen. Mats Hummels, Ilkay Gündogan und Henryk Mkhitaryan sind Geschichte. Acht neue Spieler sind zum Kader von Trainer Thomas Tuchel gestoßen – allesamt mit großer Perspektive. Sie sind die Zukunft des BVB, so, wie der Phoenix-See die Zukunft Dortmunds ist. Und Mario Götze ist einer von ihnen. Der spektakulärste wahrscheinlich. Denn was ihn von den anderen sieben Neuzugängen unterscheidet: Götze ist auch ein Stück schwarzgelbe Vergangenheit. Ein starkes Stück. Meister 2011. Double-Sieger 2012. Aber darüber wollen wir heute gar nicht reden. Sondern über die Zukunft. Seine eigene und die des vielleicht spannendsten Projektes im europäischen Fußball – wie einige Experten den BVB 2016/17 nennen.

 

Mal angenommen, Mario, wir treffen uns in zehn Jahren wieder hier. Im September 2026. Du bist 34 Jahre alt, hast gerade Deine Laufbahn beendet – was sollen die Menschen über Dich sagen, was die Medien über Dich berichten?

 

Götze grübelt einen Moment. Aber nicht sehr lange. „Dass ich durch und durch ein professioneller Fußballer war. Ein gewissenhafter Sportler, der immer alles gegeben und sich in den Dienst der Mannschaft gestellt hat.“ Und klar, ein paar Titel sollen in der Aufzählung über seine Erfolge auch noch hinzukommen. „Dafür machst du letztlich Sport. Du willst gewinnen, jedes einzelne Spiel und am Ende der Saison natürlich die wichtigen.“ Die, in denen es um Schalen und um Pokale geht.

 

Aber Mario Götze wünscht sich durchaus mehr. Er wünscht sich, dass die Menschen ihn „als starke Persönlichkeit“ wahrnehmen und respektieren. Als jemand, „der Verantwortung übernimmt und vorweg geht“. Und in der Tat wirkt er, während wir um den Phoenix-See spazieren, über Dortmund, den Strukturwande, Fußball, das Leben und die Zukunft plaudern, nicht wie jemand, der erst noch erwachsen werden muss. Er ist es. Ein junger Mann, der denkt, bevor er redet – und der dann auch was zu sagen hat. Etwa über seine Wahrnehmung in der Öffentlichkeit.

 

„Ich bin mit 17 Jahren ins kalte Wasser geworfen worden, habe in sehr jungen Jahren sehr schnell sehr viel erlebt.“ Vor allem aber steht er seit sieben Jahren unter Dauer-Beobachtung. So intensiv bisweilen, dass Thomas Tuchel sich unlängst den Hinweis erlaubte, da würden „Grenzen überschritten“. Man merke ja, „wie Mario immer wieder unter das Brennglas gelegt wird. Das tut nicht nur alles gut. Das beschäftigt einen Menschen. Niemand von uns kann sich vorstellen, wie sich das anfühlt“. Niemand außer Götze selbst. Der sagt: „Jeder bildet sich seine Meinung über mich und darf sie öffentlich verbreiten.“ Als Vorwurf will er das aber gar nicht verstanden wissen. „Manchmal ist es anstrengend, manchmal auch ärgerlich, aber im Grunde ist es okay, denn man wächst ja auch an der Auseinandersetzung mit Kritik. Entscheidend ist doch, dass man solche Erfahrungen richtig ummünzt.“

 

Wir sind inzwischen auf der Kulturinsel am Kai angekommen. Die Sonne brennt vom tiefblauen Himmel. Bei diesem Wetter ist der Phoenix-See Dortmunds „Place to be“. Dutzende Radfahrer, Jogger und Inine-Skater sind unterwegs. Spaziergänger drehen sich um und tuscheln: „Guck mal, das ist doch Mario Götze!“ Einige trauen sich, ihn anzusprechen. Ein Vater, der seine kleine Tochter Huckepack trägt, bittet um ein Selfie mit dem BVB-Star. Ein behinderter Junge fährt mit dem Elektro-Rollstuhl auf ihn zu und sagt schüchtern: „Herr Götze, ich habe heute Geburtstag und wollte mal fragen, ob Sie Zeit für ein Foto hätten.“ Eigentlich hat er die nicht, die Zeit, denn wir brauchen noch Fotomotive für die Story, in 40 Minuten ist schon wieder Training, und für die Fahrt vom Phoenix-See nach Brackel muss man um diese Uhrzeit locker 20 Minuten einkalkulieren. Und doch nimmt er sie sich, die Zeit. Hat für jeden ein Lächeln, ein nettes Wort, erfüllt die Wünsche der Fans gerne.

 

Apropos Fans: Auch diesem Thema weicht Mario Götze nicht aus. Der BVB-Anhang war sauer, als der Jungstar den Klub 2013 verließ. Stinksauer. Schließlich war er das Gesicht des bezaubernden Vollgasfußballs. Die Projektionsfläche für schwarzgelbe Fußball-Träume. Der mit dem Ball tanzte. Die außergewöhnlich heftige Ablehnung, die Götze nach seinem Wechsel von einem Teil der Anhängerschaft entgegenschlug, war letztlich nichts anderes als Ausdruck der außergewöhnlichen Zuneigung, die er zuvor genossen hatte. Enttäuschte Liebe ruft die krassesten Emotionen hervor.

 

„Ich habe volles Verständnis dafür, dass die Fans sauer waren“, sagt er. Und ja, natürlich habe er in den ersten Wochen nach seiner Rückkehr das eine oder andere Mal „ein mulmiges Gefühl“ gehabt, weil er nicht einzuschätzen wusste, wie die Anhänger reagieren würden. „Ich konnte ja nicht im Ernst erwarten, dass mich alle mit offenen Armen aufnehmen würden.“ Inzwischen aber, sagt Götze, habe sich das mulmige Gefühl gelegt. Er hat Schritte auf die Fans zu gemacht. Und es sieht sehr danach aus, als bekomme er die faire Chance, die er sich erhofft hat.

 

Alles Weitere, das weiß er, liegt bei ihm. Er möchte die Zuneigung der Zuschauer durch Leistung zurückgewinnen. Möchte Integrationsfigur sein, gerade auch für die vielen jungen und neuen Spieler. Möchte das Vertrauen der Verantwortlichen rechtfertigen und weiter lernen. Von Thomas Tuchel und seinem Trainerstab, die „den Fußball so ganzheitlich verstehen, wie ich das überhaupt noch nie erlebt habe“. Taktik, Training, Ernährung, Sportwissenschaft, Psychologie – nichts werde dem Zufall überlassen. „Im Ernst“, sagt der Rückkehrer, „da ist so viel Professionalität im Spiel, dass das zwangsläufig zum Erfolg führen m u s s!“

 

Mit ihm, Mario Götze, als einer der Schlüsselfiguren.

 

Mario Götze. Zur Person.

Mario Götze wurde am 3. Juni 1992 in Memmingen (Allgäu) geboren. Über den Umweg Houston (Texas) kam er als Fünfjähriger mit seiner Familie nach Dortmund. Götze spielte in der Jugend zunächst beim Hombrucher FV, ehe er in die Nachwuchsabteilung von Borussia Dortmund wechselte. Mit der U17-Nationlmannschaft wurde er 2009 Europameister, erhielt 2009 und 2010 jeweils die Fritz-Walter-Plakette in Gold für den besten Nachwuchsspieler seines Jahrgangs. Noch mit 17 Jahren debütierte Mario Götze unter Trainer Jürgen Klopp in der Bundesliga. Bis heute hat er für den BVB und den FC Bayern München 157 BL-Spiele absolviert und dabei 44 Tore erzielt. Hinzu kommen 58 Länderspiele (14 Tore), 44 Champions-League- (11 Tore), 4 Europa-League- (2 Tore) und 18 DFB-Pokal-Einsätze (9 Tore). Götzes Titelsammlung umfasst u.a. 5 Deutsche Meisterschaften, 3 DFB-Pokalsiege sowie den Gewinn des UEFA-Supercups und der FIFA-Klub-WM. 2014 schoss Mario Götze Deutschland im WM-Finale gegen Argentinien zum Titel. Seither steht er in einer Reihe mit Legenden wie Helmut Rahn, Gerd Müller, Andreas Brehme, Zinedine Zidane, Ronaldo und Andres Iniesta, die ebenfalls „Game-winning goals“ in WM-Endspielen erzielten.

Mario Götze über . . . Heimat . . .

„Mit dem Heimatbegriff ist das so eine Sache. Fußballprofis sind ja fast das ganze Jahr unterwegs. Trainingslager, Asientour, Auswärtsspiele in der Bundesliga, Europapokal-Reisen, Reisen mit der Nationalmannschaft. Wirklich zu Hause bist du nur an ein paar Tagen im Jahr. Dann habe ich noch Großeltern im Allgäu, mein Bruder Felix spielt in München. Und doch ist Dortmund für mich der Ort, der mir am vertrautesten ist. Ich habe 16 meiner 24 Jahre hier in Dortmund verbracht, bin hier zur Schule gegangen, kenne hier mehr Menschen als irgendwo sonst. Der alles entscheidende Punkt aber ist: Ich fühle mich hier sehr wohl!“

Mario Götze. Unter Freunden.

Sepp Herberger. Der Geist von Spiez. „Elf Freunde müsst ihr sein!“ Fußball-Romantik anno 1954 – und ein Erfolgsrezept bis heute. Rosige Aussichten also für den BVB. Denn Mario Götze und Andre Schürrle sind gut befreundet. Götze und Marco Reus auch. Unvergessen, die Szene nach dem WM-Endspiel, als der Finaltorschütze das Trikot des verletzten Teamkollegen in die Kamera hielt. Reus wiederum scherzt gerne mit Pierre-Emerick Aubameyang, der hat Ousmane Dembele unter seine Fittiche genommen. Und so weiter… – „Das Teamgefüge passt. Wir unternehmen schon jetzt viel miteinander“, sagt Mario Götze. „Und das wird bestimmt noch mehr werden.“

 

Mehr Spektakel war nie

FC Liverpool – CD Alaves 5:4 (4:4, 3:1) n.V.

(16. Mai 2001, Dortmund, Westfalenstadion)

Text aus: Jetzt muss ein Wunder her – Die 25 größten Spiele im Fußball-Tempel des BVB, Klartext-Verlag

Zieht man alle entscheidenden Faktoren zur Bewertung eines Fußballspiels heran – die sportliche Bedeutung, die Dramaturgie, die Klasse, die Anzahl und Qualität der Tore und nicht zuletzt den Gänsehaut-Faktor der Atmosphäre auf den Rängen –, so kommt der Fußball-Gourmet an der Festlegung nicht vorbei: Das UEFA-Cup-Finale der Saison 2000/01 zwischen dem turmhohen Favoriten FC Liverpool und dem glasklaren Außenseiter CD Alaves gehört unbedingt zu den Top-3-Spielen im Dortmunder Stadion.

Serviert wurde: Eine Feinschmeckerplatte auf Sterne-Niveau. Ein Torfestival. Ein Finale, das – anders als viel zu viele vorher und nachher – nicht geprägt war von übergroßem Respekt der kickenden Hauptdarsteller voreinander. Nicht geprägt von zwei Trainern, die der Fußballwelt mit möglichst ausgeklügelten taktischen Kniffen beweisen wollten, welch brillante Strategen sie doch sind. Nicht geprägt von bestenfalls kontrollierter Offensive, die bisweilen in unkontrollierbare Langeweile mündet.

Das Finale von Dortmund bot unkontrollierbare Offensive auf beiden Seiten. Fußball mit Tempo, Leidenschaft und offenem Visier. Das Ergebnis war ein Drama in mehreren Akten – mit einem langen, nassen und feucht-fröhlichen Prolog auf den Plätzen und in den Kneipen der City. Mehr als 20.000 britische Anhänger hatten dort den Finaltag über gemeinsam mit gut und gerne 15.000 baskischen Fans gefeiert. Im zumeist strömenden Regen bei für die Jahreszeit ziemlich lausigen Temperaturen. Westfalen empfing seine finalen Gäste mit echtem Insel-Wetter.

Die Duellanten um den UEFA-Pokal 2001, sie hätten unterschiedlicher kaum sein können. Von der Papierform her ein Duell zwischen Goliath und David.

Der Goliath – FC Liverpool:

18 englische Meistertitel standen am Tag des Endspiels auf dem Briefkopf, dazu je sechs FA- und Liga-Cup-Siege. Viermal hatten die „Reds“ den Europapokal der Landesmeister gewonnen und zweimal auch schon den UEFA-Cup. Ein Traditionsklub, der wie wenige andere für die Ur-Tugenden des britischen Fußballs stand und steht: für Leidenschaft, Kampf und den unerschütterlichen „Never give up“-Spirit.

Der FC Liverpool – ein Verein, bei dem Legenden wie Bob Paisley und Bill Shankly auf der Trainerbank gesessen hatten. Jener Shankly, von dem eine Aussage stammt, die wie in Stein gemeißelt bis heute für das Selbstverständnis der Marke FC Liverpool steht. „Einige Leute“, hatte der Trainer einst angemerkt, „halten Fußball für einen Kampf um Leben und Tod. Ich mag diese Einstellung nicht. Ich versichere Ihnen, dass es viel ernster ist.“ Jener Shankly auch, der am Ende des Tunnels, durch den die Spieler von den Kabinen aufs Feld gelangen, eine Tafel anbringen ließ. Aufschrift: „This is Anfield!“ Nicht irgend ein Stadion, sondern DAS Stadion. Eine Aufschrift wie eine Mahnung an jeden Gegner: Zeigt gefälligst Respekt! Und eine Warnung: Habt gefälligst Angst!

Der FC Liverpool – ein Verein, für den Legenden wie John Toshack, Ian Rush, Kenny Dalglish und Kevin Keegan auf dem Platz gestanden hatten, Graeme Souness, Ian Callaghan, Jamie Carragher und Steven Gerrard.

Der FC Liverpool – ein Verein, dessen Stadion an der Anfield Road zu den bedeutendsten Fußball-Kultstätten zählt. Mit einer Tribüne, „The Kop“ genannt, die, als sie noch eine Stehtribüne war, so gefürchtet war wie die „Gelbe Wand“ im Signal Iduna Park. Mit einer Lautstärke, die lange Zeit alles in den Schatten stellte, was man an Anfeuerung kannte. Der „Liverpool-Roar“ ist gleichermaßen ein Naturereignis, die Anfield Road also ein FußballweltKULTURerbe und der „Roar“ ein FußballweltNATURerbe. An jenem 16. Mai 2001 wurde die Nordtribüne des Signal Iduna Parks zu „The Kop“, denn dort standen – nicht saßen – die meisten Fans des Klubs aus der Beatles-Stadt.

Genug der Schwärmerei. Genug vom Goliath – und damit zum David: CD Alaves.

Club Deportivo Alavés, so der vollständige Name, ist das krasse Gegenteil. Tradition, gewiss, die hat der Verein auch. 1921 gegründet, ist der Briefkopf gleichwohl blank. Erfolge: Fehlanzeige. Nicht einmal eine Stadt ist Alavés, sondern eine Provinz. Die Stadt, in der CD spielt, heißt Vitoria-Gasteiz und ist zugleich Hauptstadt der spanischen autonomen Region Baskenland. Soweit der kleine geographische Exkurs.

Einzige Berühmtheit des Klubs ist Andoni Zubizareta, 126-facher Nationaltorwart und 1987 Spaniens Fußballer des Jahres. Für CD spielte er nur kurz – sein Transfer verhinderte immerhin den Konkurs des Vereins. Erfolge feierte er erst mit dem FC Barcelona und mit Athletic Bilbao, der Nummer eins im baskischen Fußball, gefolgt von Real Sociedad San Sebastian. Dahinter erst folgt mit Abstand CD Alaves, ein Klub, der es bis heute, Stand 2013, nicht einmal auf ein Dutzend Spielzeiten in der Primera Division bringt. Fünf in Folge, mithin die beste Phase der Klubgeschichte, von 1998 (Wiederaufstieg nach 42 Jahren) bis 2003.

Der Einzug der Basken ins Finale war die große Überraschung der UEFA-Cup-Saison 2000/01, zumal sie auf ihrem Weg nach Dortmund beileibe nicht nur sportliches Fallobst zugelost bekamen. Auf Gaziantespor (Türkei) und Lilleström (Norwegen) folgte mit dem Champions-League erfahrenen Rosenborg Trondheim der erste echte Gegner und anschließend mit Inter Mailand die vermeintliche Endstation. Doch Alaves setzte sich nach einem 3:3 daheim im Rückspiel in San Siro mit 2:0 durch, schaltete anschließend auch den Ligarivalen Rayo Vallecano aus und zerlegte im Halbfinale den 1. FC Kaiserslautern in der Addition der Spiele (5:1, 4:1) mit 9:2.

Den deutlich anspruchsvolleren Weg allerdings hatte der FC Liverpool. Auf Rapid Bukarest, Slovan Liberec und Olympiakos Piräus folgten der AS Rom (2:0 A, 0:1 H), der FC Porto und schließlich der FC Barcelona, damals noch als holländische Filiale mit Reiziger, de Boer, Cocu, Overmars, Kluivert – und einem gewissen Pep Guardiola als Denk- und Lenkzentrum im Mittelfeld. Nach einem 0:0 in Nou Camp nutzte Liverpool den Heimvorteil im Rückspiel und löste durch ein 1:0 das Final-Ticket.

Im Endspiel galten die „Reds“, die vier Tage zuvor den FA-Cup gewonnen hatten, als turmhoher Favorit. Und so begannen sie auch – vor 48.000 Zuschauern. „Nur“ 48.000 Zuschauer, weil die Ecken des Westfalenstadions seinerzeit noch nicht ausgebaut waren. Das Team von Trainer Gerard Houllier mit den jungen Michael Owen und Steven Gerrard, mit den beiden Deutschen Markus Babbel und Didi Hamann und mit dem finnischen Abwehr-Hünen Sami Hyypiä, führte nach einer Viertelstunde durch Babbel und Gerrard mit 2:0. Zwar gelang Ivan Alonso der Anschluss, doch Gary McAllister stellte unmittelbar vor der Pause den Zwei-Tore-Abstand wieder her. Spätestens mit diesem Treffer schien die Messe im Dortmunder Fußball-Tempel gelesen.

Doch der Außenseiter kam zurück – und wie! Binnen drei Minuten glich Javi Moreno zum 3:3 aus (48./51), und nach Liverpools neuerlicher Führung durch Robbie Fowler (73.), trat eine Minute vor dem Schlusspfiff ein Mann auf den Plan, dessen legendärer Vater Johan 27 Jahre zuvor an selber Stätte im WM-Zwischenrundenspiel gegen Brasilien ebenfalls Fußball-Geschichte geschrieben hatte: Jordi Cruyff.

4:4 also. Verlängerung. Und die endete nach 27 von 30 Minuten vorzeitig, weil Delfi Geli einen Freistoß von McAllister per Kopf ins lange Eck verlängerte. Dummerweise ins lange Eck des eigenen Tores. Was das Drama komplett machte: Erstens – Torwart Martin Herrera, der direkt hinter Geli heran geflogen kam, hätte den Ball problemlos aus der Gefahrenzone gefaustet. Zweitens – den nach zwei gelb-roten Karten in doppelter Unterzahl agierenden Basken blieb diesmal keine Restzeit für eine sportliche Antwort. Es war ein „Golden Goal“, ein goldenes Eigentor. Das Spiel war aus! Es endete kurz nach Mitternacht als baskische Tragödie und als britisches Freudenfest. Erster Sieger: Liverpool. Zweiter Sieger: Alaves. Dritter Sieger: der Fußball. Vierter Sieger: die Fußball-Hauptstadt Dortmund und ihr unglaubliches Stadion.

Liverpools deutscher Nationalspieler Didi Hamann war nach dem Spiel mit den Nerven am Ende: „Auch wenn wir letztlich gewonnen haben, hoffe ich, das war das erste und das letzte Mal, dass ich so etwas erleben musste.“ Und Trainer Houllier sagte seinem Team nach dem ersten Europacup-Triumph nach 17 Jahren voraus: „Die Mannschaft wird unsterblich werden.“ Immerhin für Teile der Mannschaft trat die Prognose ein, denn Gerrard, Hamann, Hyypiä und Jamie Carragher waren im Gegensatz zu Houllier selbst auch vier Jahre später noch dabei, als der FC Liverpool die Champions League gewann – in einem noch unglaublicheren Finale als es das 2001er gegen Alaves gewesen war.

In Istanbul lagen die „Reds“ 2005 gegen den AC Mailand zur Pause mit 0:3 (Tore: Hernan Crespo 2, Paolo Maldini) zurück, und wer zur Pause gegen den AC Mailand mit 0:3 zurück liegt, hat eine Siegchance im Promillebereich. Liverpool nutzte sie. Das Team brauchte nach dem Wechsel ganze sechs Minuten (54. – 60.), um durch Gerrard, Vladimir Smicer und Xabi Alonso auszugleichen. Im Elfmeterschießen versiebten dann Milans Superstars Serginho, Andrea Pirlo und Andrij Schewtschenko; die Briten triumphierten schließlich mit 6:5.

Von Toren aus

Gold und Silber

Um die Verlängerung im Fußball spannender zu machen, führte der Fußball-Weltverband FIFA in den 1990-er Jahren das „Golden Goal“ ein. Die Regel besagte – in Anlehnung an den Sudden Death („Plötzlicher Tod“) beim Eishockey –, dass ein Spiel beendet ist, sobald in der Verlängerung ein Tor fällt. Das UEFA-Cup-Endspiel 2001 in Dortmund zwischen Liverpool und Alaves war nicht das einzige, das durch einen solchen Treffer jäh entschieden wurde – wohl aber das einzige bedeutsame Spiel, in dem das „Golden Goal“ ein Eigentor war.

Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft gewann ihren bis heute letzten Titel durch ein „Golden Goal“. Oliver Bierhoff erzielte es im Finale der Europameisterschaft 1996 im Londoner Wembley-Stadion in der 95. Minute zum 2:1 gegen Tschechien.

Gleich zweimal profitierte die deutsche Frauen-Nationalmannschaft von der Regel. Das Finale der Heim-EM 2001 in Ulm gewann sie durch einen Treffer von Claudia Müller in der Verlängerung; im Endspiel der WM 2003 in den USA war Nia Künzer erfolgreich – beide Treffer fielen in der 98. Minute.

Frankreich bemühte das „Golden Goal“ auf dem Weg zum Titelgewinn bei der Heim-EM 2000 zweimal. Das Halbfinale gegen Portugal beendete Zinedine Zidane nach 117 Minuten durch einen verwandelten Handelfmeter; im Endspiel gegen Italien traf David Trezeguet in der 103. Minute. Besondere Tragik für die Italiener: Sylvain Wiltord hatte Frankreich erst in der 90. Minute mit seinem Treffer zum 1:1-Ausgleich überhaupt in die Verlängerung gerettet.

Bei Weltmeisterschaften fielen vier „Golden Goals“. 1998 besiegte Frankreich im Viertelfinale Paraguay; 2002 setzten sich im Achtelfinale Senegal gegen Schweden und Südkorea gegen Italien durch; im Viertelfinale war die Türkei gegen den Senegal erfolgreich.

Der europäische Fußball-Verband UEFA änderte die Regel 2002 ab und führte das „Silver Goal“ ein. Danach wurde bei einem Torerfolg in der Verlängerung die laufende Halbzeit der Verlängerung noch zu Ende gespielt.

Auf diese Weise setzte sich Griechenland im Halbfinale der EM 2004 in Portugal gegen Tschechien durch. Weil Traianos Dellas allerdings in der Nachspielzeit der ersten Hälfte der Verlängerung (105 + 1) erfolgreich war, kam der Treffer einem „Golden Goal“ gleich – die Partie war danach sofort beendet.

Die Europameisterschaft 2004 war zugleich das letzte Turnier, bei dem die von Anfang an unbeliebte Regel der verkürzten Verlängerung angewendet wurde. 2004 schafften die Verbände sie wieder ab.

Freistoß Sahin. Kopfball Hummels. TOOOR! Eigentlich.

Zwei Jahre nach dem Pokalfinale 2014 brechen der Ball und die Torlinie endlich ihr Schweigen

Der 17. Mai 2014 war schon tagsüber fies. Oben an der Spree. Es war ungemütlich kalt in Berlin. Nasskalt. Immer wieder schauerte es. Und als am Abend im Olympiastadion der BVB und Bayern München auf der letzten Rille um den DFB-Pokal kämpften, da kübelte es phasenweise sogar wie aus Eimern. Eines aber hatte das Wetter an diesem Endspielabend nicht im Repertoire: Nebel! Das Flutlicht schien hell und die Fernsicht war exzellent, als die 64. Spielminute anbrach. Als Mats Hummels den Ball im Flug artistisch aufs Tor und ins Tor hinein köpfte. 76.197 Zuschauer sahen das auch. Nur die beiden Zuschauer auf den besten Plätzen – die sahen es nicht: Schiedsrichter Florian Meyer und sein Assistent an der Linie. Jetzt, zwei Jahre später, melden sich erstmals zwei Kronzeugen zu Wort, die bislang beharrlich geschwiegen haben: Der Ball. Und die Torlinie.

Mal Hand aufs Herz, Ball, wie war das damals – wie hast Du die Szene gesehen?

Der Ball: Aus allernächster Nähe. Ich war ja quasi mittendrin. Also erst im Geschehen und dann im Tor.

Der Reihe nach . . .

Der Ball: Es gab Freistoß für Borussia. Ein ruhender Ball also. Wobei: Wer hat sich eigentlich diesen Begriff ausgedacht: ruhender Ball. Wisst Ihr, wie nervös ich war. . .?! Aber egal, ich schweife ab. Der Nuri Sahin streichelt mich also mit dem linken Fuß in den Strafraum. Herrlich! Wenn ich daran denke, krieg‘ ich heute noch ’ne Lederhaut. Dann fliegen Lewandowski und dieser Dante mit seiner Stromschlag-Frisur auf mich zu. Oder ich auf sie. Egal. Lewi lässt mich so gerade eben über den Scheitel rutschen. Dann geht alles sehr schnell. Ich faaaaalleeeee – plötzlich ist der Mats da, der Hummels. Bäääm!

Wie jetzt – bäääm?!

Der Ball: Ja, bäääm eben! Der Mats liegt waagerecht in der Luft. Ziemlich verdreht, wenn ihr mich fragt. Aber irgendwie erwischt er mich mit dem Kopf. Ich fliege also Richtung Tor, sehe unter mir die Torlinie vorbeirauschen, sehe vor mir das Netz. Ich denke noch: Genau da musst Du hin. Ins Netz! Ihr wisst ja, das Runde, ich also, muss ins Eckige. Alte Fußball-Weisheit.

Und dann?

Der Ball: Das Nächste, was ich spüre, ist der Fuß von diesem Dante. Der tritt mich mit voller Wucht aus dem Tor. Aber war ja wurscht. Ich war ja vorher schon drin. Ätschibätsch, du Dante! Dachte ich. Ich bin dann ja auch direkt im hohen Bogen Richtung Mittelkreis geflogen. Zum Anstoß. Aber als ich da ankam, nahm mich niemand, um mich auf den Anstoßpunkt zu legen. Das Spiel lief einfach weiter.

Und Du, Torlinie, wie hast Du den Treffer gesehen?

Die Torlinie: Eher zufällig, um ehrlich zu sein. Schlechte Sicht. Es hat ja Bindfäden geregnet. Von der Latte prasselten ständig Wassertropfen auf mich herab. Ich wollte mir gerade die Brille putzen, als plötzlich der Ball über mir auftaucht und über mich hinweg fliegt. „Tooor!“, will ich also pflichtgemäß rufen . . .

. . . aber?

Die Torlinie: Aber da latscht dieser Dante mit seinem rechten Fuß voll auf mich drauf, bohrt seine Eisenstollen in mich hinein und schlägt mit links den Ball aus der Kiste.

ECHT: Ein regulärer Treffer also?

Ball und Torlinie (irritiert): Ist die Erde rund?

Die Helden von Glasgow – Hoppy Kurrat: Borussia Dortmunds DNA, verteilt auf 162 Zentimeter

Dieter „Hoppy“ Kurrat verkörpert wie kaum ein anderer alles das, wofür der BVB steht – Sobald er die Turmspitze der Reinoldikirche nicht mehr sieht, beginnt das Heimweh

Nein, Desoxyribonukleinsäure ist kein Begriff, mit dem üblicherweise Geschichten über Fußballspieler beginnen. Aber: Desoxyribonukleinsäure – besser bekannt unter der englischen Abkürzung DNA – ist der denkbar beste Begriff, um eine Geschichte über Dieter Kurrat zu beginnen. Denn DNA ist der Träger der Erbinformation. Und wenn es einen Spieler gibt, der das Genmaterial von Borussia Dortmund zu 100 Prozent in sich trägt, dann ist es der 162 Zentimeter kleine Mann, den niemand Dieter nennt, weil er für alle der „Hoppy“ ist – für alle, außer für Theo Redder. Sein früherer Mannschaftskamerad und enger Freund nennt ihn „Spatzel“!

Hobby Kurrat – am Borsigplatz geboren. Der Vater hatte ein Fuhrunternehmen. Heute würde man sagen: eine kleine Spedition. Der Sohn, von kleiner Statur und nicht körperlich nicht eben das, was man sich in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts unter einem Ruhrgebiets-Malocher vorstellte, lernte genau das: Malocher! Drahtzieher bei Hoesch zunächst, später, schon als BVB-“Profi“, arbeitete Hoppy Kurrat bei der Hansa-Brauerei. Jahre, die ihn geprägt haben wir nichts anderes.

Wer begreifen möchte, was Dortmund für ihn bedeutet, spricht am besten mit seiner Frau. „Sobald er die Turmspitze der Reinoldikirche nicht mehr sehen kann, beginnt sein Heimweh“, erzählt Marga Kurrat. Und schildert mit unglaublichen Geschichten, wie wörtlich das zu nehmen ist. „Wir mussten Urlaube in Italien und auf Texel nach ein paar Tagen abbrechen, weil ihm sein Dortmund so fehlte. Einmal ist er von Garmisch-Partenkirchen aus mit dem Auto zurück gefahren, einmal um den Borsigplatz und zum Stadion – und dann wieder nach Garmisch.“ Hoppy Kurrat sitzt daneben, hört der Gattin aufmerksam zu. Er widerspricht nicht. Nickt leicht. Es fasst ihn emotional an. Echte Liebe in einer anderen, einer eigenen Dimension.

Als Hoppy Kurrat entdeckt wurde, war er 15 Jahre jung und kickte beim FC Merkur. Sein Entdecker: der gefürchtete Schleifer Max Merkel, gegen den Felix Magath ein Wellness-Coach ist. „Heute klagen die Profis, wenn sie zweimal in der Woche spielen müssen. Wenn die nur EINMAL unter Merkel trainiert hätten müssen . . .“, sagt Kurrat. Und dann bricht er den Satz ab, weil er eigentlich gar nicht über die heutige Fußballer-Generation meckern möchte. Klar, manchmal nervt es ihn, wenn sie sich nach Torerfolgen heroisch auf das BVB-Emblem klopfen oder die Hände zum Herz formen. Aber in Wahrheit mag er sie; mag es, alle 14 Tage ins Stadion zu gehen, sie spielen, kämpfen und siegen zu sehen. „Es ist toll“, sagt er, „dass die Jungs wieder so attraktiv und erfolgreich spielen.“

Erfolge hat er selbst reichlich gefeiert. Deutscher Meister 1963, Schütze des 1:0 im Endspiel gegen den 1. FC Köln – da war er gerade 21 und damit volljährig geworden. Seinen ersten Vertrag beim BVB hatte noch seine Mama unterschreiben müssen. „120 D-Mark bekam ich im Monat.“ Nach Einführung der Bundesliga wurde es mehr. 1965 dann der DFB-Pokalsieg, ein Jahr später der Europapokal-Triumph gegen den turmhoch favorisierten FC Liverpool. Auch bei Hoppy Kurrat hat sich der legendäre Satz von Trainer „Fischken“ Multhaup aus der abschließenden Mannschaftssitzung festgefressen: „Männer, von zehn Spielen gegen Liverpool verlieren wir neun – aber heute ist das eine, das wir gewinnen!“

Viele der „Helden von Glasgow“ verließen den BVB in den Folgejahren. Kurrat blieb. Er, den sie den „Terrier“ nannten, weil er internationalen Superstars wie Wolfgang Overath, Günter Netzer, Sandro Mazzola und Bobby Charlton notfalls auch bis auf die Toilette folgte, hielt Schwarzgelb die Treue. Der Wadenbeißer, gegen den niemand gerne spielte, stand zur Borussia in guten wie in schlechten Zeiten. Eusebio, der große Portugiese, würgte Kurrat aus Frust und Verzweiflung einmal sogar am Hals und Atalanta Bergamo wollte ihn verpflichten, nachdem er Regisseur Luis Suarez komplett ausgeschaltet hatte. Für Kurrat kein Thema. Er lehnte ab. Auch das Angebot von Hertha BSC. Er hätte weder aus Bergamo noch aus Berlin die Turmspitze der Reinoldikirche sehen können.

Kurrat blieb. Er verzichtete auf Prämien, als es dem BVB finanziell schlecht ging. Und er ging mit seiner Borussia auch den schweren Weg in die Zweitklassigkeit. 1972 der Abstieg in die Regionalliga. Sportlicher Tiefpunkt. Es flossen bittere Tränen. Als Hoppy zwei Jahre später, nach mehr als 300 Spielen für den BVB, davon 247 in der Bundesliga (9 Tore), seine Profilaufbahn beendete, erhielt er als erster Borusse überhaupt ein Abschiedsspiel. Ganz lassen konnte er vom Fußball aber auch danach nicht: 1976 führte Kurrat den SV Holzwickede als Spielertrainer zum Gewinn der Deutschen Amateurmeisterschaft.

Holzwickede, der Dortmunder Vorort, wurde schließlich auch seine zweite Heimat. Noch während seiner aktiven Zeit übernahmen Hoppy und Marga Kurrat an der Bahnhofstraße eine Gaststätte. „Hoppy’s Treff“ entwickelte sich zum lokalen Treffpunkt Nummer 1 und zur Kultstätte für Fußball-Fans aus der ganzen Region. Mehr als 30 Jahre stand das Ehepaar hinter der Theke. „Der Hoppy“, sagt Marga Kurrat, „konnte ein feines Bier zapfen!“ In Wahrheit aber war das Leben nach dem Fußball wie das Leben vor dem Fußball und sein Leben als Fußballer: Maloche. Harte Arbeit, oft bis 3 Uhr in der Nacht.

Heute, mit fast 74, muss Hoppy Kurrat auch ein wenig auf die Gesundheit achten. Er erfreut sich an seinem BVB. Er genießt die regelmäßigen Treffen mit den alten Mannschaftskameraden – mit Theo Redder, Aki Schmidt, Wolfgang Paul, Hans Tilkowski. „Das sind Freunde fürs Leben“, sagt er. „Eine tolle Gemeinschaft.“ Und wenn ihm zu Hause doch mal die Decke auf den Kopf fällt: Dann fährt Hoppy Kurrat einfach einmal um den Borsigplatz.

Warum der Hoppy Hoppy heißt . . .
„Als ich ein kleiner Junge war, spielten wir auf der Straße oft Cowboy. Zu der Zeit gab es einen Western-Held, der hieß Hopalong Cassidy (dargestellt von Schauspieler William Lawrence Boyd/d. Red.). Er hatte zwei Colts und war unglaublich schnell. So wie ich. In den Filmen wurde dieser Hopalong kurz ‚Hoppy‘ genannnt – und so hatte ich meinen Spitznamen weg.“
Link-Tipp: https://www.youtube.com/watch?v=n2kw3RieY5A

Die Helden von Glasgow – Bernhard Wessel: Man muss nicht groß sein, um ein Großer zu sein!

Mit 1,75 m war Bernhard Wessel für einen Torwart ziemlich klein – wettgemacht hat er es durch sensationelle Reflexe und „abenteuerliche Flugeinlagen“

Er ist das lebende Beispiel dafür, dass man nicht groß sein muss, um ein Großer zu sein. Dafür, dass Länge und Größe zwei völlig unterschiedliche Kategorien sind. Lang ist Bernhard Wessel mit seinen 1,75 Metern nun wirklich nicht. Insbesondere für einen Torwart ist er damit sogar ziemlich klein. Groß ist er dennoch: Wessel wurde mit Borussia Dortmund 1963 Deutscher Meister, gewann 1965 den DFB-Pokal und 1966 den Europacup. „Ich habe die fehlenden Zentimeter durch meine fantastische Sprungkraft kompensiert“, sagt er rückblickend. Zeitgenossen bescheinigen ihm „sensationelle Reflexe“ und erinnern sich an bisweilen „abenteuerliche Flugeinlagen“. Wessel selbst erinnert sich daran, dass er „Bälle manchmal mit einer Hand hielt“ – festhielt, versteht sich. In diesem Jahr, in dem sich der EC-Triumph gegen den FC Liverpool zum 50. Male jährt, vollendet der gebürtige Ostwestfale sein 80. Lebensjahr. Sportlich aktiv ist er immer noch: Als Tennislehrer steht Bernhard Wessel fast täglich auf dem Court. Ein Leben für den Sport.

An ein Spiel erinnern sich alle BVB-Fans, die die große Zeit der Schwarzgelben in der ersten Hälfte der 1960er Jahre miterlebt haben, ganz besonders: Es ist der 1:0-Erfolg beim Hamburger SV in der Endrunde zur Deutschen Meisterschaft am 8. Juni 1963. Die Hanseaten um Uwe Seeler nahmen den Keeper des BVB unter Dauerbeschuss. „Der HSV hätte 5:0 oder 6:0 gewinnen können“, sagt Wessel. Doch Dortmunds Torwart zog die Bälle an wie ein Magnet eine Eisenkugel. Schließlich stellte Jürgen „Charly“ Schütz den Spielverlauf auf den Kopf. „Ein Wahnsinnsspiel“, sagt Wessel, der wenige Wochen zuvor Heini Kwiatkowski zwischen den Pfosten abgelöst hatte und auch am 29. Juni 1963 beim Endspiel um die Deutsche Meisterschaft in der ersten Elf stand. Der BVB besiegte Köln mit 3:1 und Bernhard Wessel, der über die SG Sendenhorst und die TSG Rheda an die Strobelallee gekommen war, durfte sich Meister nennen. Um ein Haar hätte der BVB sogar das Double gewonnen, doch im DFB-Pokalfinale setzte es eine 0:3-Niederlage gegen – eben jenen HSV! „Wir hatten damals“, erzählt Wessel, „eine ganz tolle Truppe und einen irren Zusammenhalt. Die Mannschaft passte zusammen wie die berühmte Faust aufs Auge.“ Mit Hoppy Kurrat teilte er jahrelang das Zimmer. „Mit Hoppy habe ich damals mehr Zeit verbracht als mit meiner Frau Marianne.“

In den folgenden Jahren stand Wessel dann ein wenig im Schatten von Hans Tilkowski. So hütete er in der DFB-Pokalsaison 1964/65 zwar in allen Runden das BVB-Tor – nicht aber im Finale. Beim 2:0 über Alemannia Aachen erhielt Tilkowski den Vorzug. Am Europapokal-Triumph hatte Wessel ebenfalls seinen Anteil – er hielt sein Gehäuse beim 8:0 gegen den FC Floriana und beim 3:0 im hitzigen Duell mit ZSKA Sofia sauber. Und wer weiß, welche Wege seine Karriere eingeschlagen hätte, wäre er nicht 1,75, sondern 1,85 Meter groß gewesen. „Wenn Du doch bloß eine Handbreit größer wärst . . .“, hat der legendäre Bundestrainer Sepp Herber einmal zu ihm gesagt.

Nach 20 Ober- und 87 Bundesligaspielen, 14 Einsätzen im DFB- und 7 im Europapokal verließ Bernhard Wessel Borussia Dortmund am Ende der Saison 1968/69 und beendete nach einer langwierigen Leistenverletzung seine aktive Laufbahn. Als Trainer war er anschließend beim TuS Iserlohn, VfB Westhofen und Hüsten 09 tätig. Den TuS Neuenrade führte er bis ins Viertelfinale der Deutschen Amateurmeisterschaft und beim VfL Schwerte bildete er Wolfgang Kleff aus – später Nationalkeeper und Meistertorwart von Borussia Mönchengladbach.

Noch während er aktiv Fußball spielte, entdeckte Bernhard Wessel seine zweite Liebe: den Tennissport. Die grünen Filzkugeln wurden Beruf und Berufung zugleich. Wessel spielte in der zweithöchsten Spielklasse, erwarb die Tennislehrer-Lizenz, führte über 30 Jahre hinweg mit seiner Gattin eine Tennishalle in der Wahlheimat Boppard und war zwischenzeitlich fünf Jahre lang als Tennislehrer im Ausland tätig. Erst seit zwei Jahren kämpft er nicht mehr um Spiel, Satz und Sieg. Als Trainer freilich steht er nach wie vor mehrfach pro Woche auf dem Court; samstags auch gerne mal fünf oder sechs Stunden am Stück. Mit jetzt 79 Jahren. Jüngster Schüler ist sein Urenkel, kaum groß genug, um einen Schläger zu halten, aber schon ganz verrückt nach Tennis.

Das Geschehen beim BVB verfolgt Bernhard Wessel natürlich ebenfalls intensiv. Meist aus der Ferne. Wenn die Zeit es zulässt, reist er aber auch zu Heimspielen an. Einmal Borusse, immer Borusse. Das gilt insbesondere für Spieler wie ihn. Große Spieler – die manchmal so groß gar nicht sind.

Die Helden von Glasgow – Jürgen Weber: Ein Tor auf Malta als Eintrag ins Geschichtsbuch

Jürgen Weber, dem in Dortmund der Durchbruch nicht gelang, löste später in Südafrika eine Fußball-Euphorie aus

Borussia Dortmund 1965/66 – die Helden von Glasgow, die um ein Haar ja auch noch Deutscher Meister geworden wären: Keine Frage, das war eine Mannschaft der großen Namen. Tilkowski, Paul, Kurrat, Held, Emmerich, Libuda, Schmidt . . . als Fan des BVB kann man sie alle aufzählen. Zur vollen Wahrheit aber gehört: Neben den Häuptlingen gab es auch Indianer. Jene Spieler, die eher im zweiten Glied standen und deren Namen nur die Statistik-Nerds und Geschichts-Freaks unter den Anhängern auf der neuronalen Festplatte abgespeichert haben. Spieler wie Jürgen Weber.

Weber war 21 Jahre jung und hatte bis dahin beim VfL Hörde und beim SV Schüren gekickt, als er im Sommer 1965 zum amtierenden DFB-Pokalsieger und Europacup-Teilnehmer Borussia Dortmund wechselte. Und der Mittelfeldspieler erwischte unter Trainer „Fischken“ Multhaup einen wirklich guten Start. Am ersten Bundesliga-Spieltag bei Eintracht Braunschweig stand er in der BVB-Elf. Allerdings kam die mit 0:4 unter die Räder. Weber habe „keineswegs Bundesliga-Format“ gezeigt – so kann man es heute noch auf fussballdaten.de nachlesen. Das traf an jenem Tag auf seine zehn Teamkollegen aber gleichermaßen zu.

Weber blieb im Team. Am 4. Spieltag beim 4:1 über den Karlsruher SC gelang ihm zum zwischenzeitlichen 2:0 sein erstes Bundesliga-Tor. Zwei Spieltage später bereitete er beim 3:2 auf Schalke per Freistoß die 1:0-Führung durch einen Kopfball von Lothar Emmerich vor. Und auch im Erstrunden-Hinspiel im Europapokal beim FC Floriana auf Malta stand Jürgen Weber auf dem Platz. Mehr noch: Er erzielte den Treffer zum 5:1-Endstand – und sicherte sich so seinen aktiven Part im Kreise der Helden.

Doch dem vielversprechenden Auftakt folgten bis zum Ende seiner Dortmunder Zeit im Sommer 1968 nur noch wenige sporadische Einsätze. So etwa in der Endphase der Spielzeit 66/67 im Derby beim FC Schalke 04, das der BVB in der Glückauf-Kampfbahn mit 4:1 gewann – auch dank Webers Treffer zum zwischenzeitlichen 2:0. Letztlich standen nach drei Jahren aber lediglich 18 Bundesliga-Spiele auf seinem Tätigkeitsnachweis. Mit drei Toren. Das legendäre Endspiel gegen den FC Liverpool erlebte Jürgen Weber von der Tribüne aus. Ein Schicksal, das er allerdings mit weitaus namhafteren Akteuren teilte, denn Spielerwechsel gab es damals noch nicht. Wer bei Anpfiff nicht auf dem Platz stand, stand dort auch beim Abpfiff nicht.

Und dennoch: Borussia Dortmund hatte Jürgen Weber immerhin die Türen für eine langjährige Bundesliga-Karriere geöffnet. Er wechselte von der Roten Erde zu Hertha BSC und wurde 1969/70 mit den Berlinern überraschend Dritter. Als Stammspieler, der bei 28 Einsätzen fünf Tore erzielte. Stammspieler war er auch bei seinem nächsten Klub, dem SV Werder Bremen – bis, ja bis Jürgen Weber im Zuge des Bundesliga-Skandals vom 21. Juni 1972 bis zum 20. Juni 1974 für zwei Jahre gesperrt wurde.
Weber verließ die Bundesliga. Weber verließ Deutschland. Gemeinsam mit vier ehemaligen und ebenfalls gesperrten Berliner Teamkollegen – Torwart Volkmar Groß, Arno Steffenhagen, Bernd Patzke und Wolfgang Gayer – ging er nach Südafrika, zu Hellenic FC. Das deutsche Quintett löste dort vorübergehend eine regelrechte Fußball-Euphorie aus. 20.000 Zuschauer kamen zu den Spielen; die Fans campierten vor den Stadionkassen, um Tickets zu ergattern. Zustände wie heutzutage in Dortmund . . .

Als Jürgen Weber im November 1973 ein halbes Jahr vor Ablauf seiner Sperre begnadigt wurde, kehrte er umgehend in die Heimat zurück. Mit Eintracht Braunschweig stieg er in die Bundesliga auf, spielte anschließend noch für Hannover 96 und kam zum Ende seiner Profilaufbahn auf 137 Einsätze in der Bundesliga (19 Tore), 17 (2) im DFB-Pokal und 11 (1) im Europacup.