Mehr Spektakel war nie

FC Liverpool – CD Alaves 5:4 (4:4, 3:1) n.V.

(16. Mai 2001, Dortmund, Westfalenstadion)

Text aus: Jetzt muss ein Wunder her – Die 25 größten Spiele im Fußball-Tempel des BVB, Klartext-Verlag

Zieht man alle entscheidenden Faktoren zur Bewertung eines Fußballspiels heran – die sportliche Bedeutung, die Dramaturgie, die Klasse, die Anzahl und Qualität der Tore und nicht zuletzt den Gänsehaut-Faktor der Atmosphäre auf den Rängen –, so kommt der Fußball-Gourmet an der Festlegung nicht vorbei: Das UEFA-Cup-Finale der Saison 2000/01 zwischen dem turmhohen Favoriten FC Liverpool und dem glasklaren Außenseiter CD Alaves gehört unbedingt zu den Top-3-Spielen im Dortmunder Stadion.

Serviert wurde: Eine Feinschmeckerplatte auf Sterne-Niveau. Ein Torfestival. Ein Finale, das – anders als viel zu viele vorher und nachher – nicht geprägt war von übergroßem Respekt der kickenden Hauptdarsteller voreinander. Nicht geprägt von zwei Trainern, die der Fußballwelt mit möglichst ausgeklügelten taktischen Kniffen beweisen wollten, welch brillante Strategen sie doch sind. Nicht geprägt von bestenfalls kontrollierter Offensive, die bisweilen in unkontrollierbare Langeweile mündet.

Das Finale von Dortmund bot unkontrollierbare Offensive auf beiden Seiten. Fußball mit Tempo, Leidenschaft und offenem Visier. Das Ergebnis war ein Drama in mehreren Akten – mit einem langen, nassen und feucht-fröhlichen Prolog auf den Plätzen und in den Kneipen der City. Mehr als 20.000 britische Anhänger hatten dort den Finaltag über gemeinsam mit gut und gerne 15.000 baskischen Fans gefeiert. Im zumeist strömenden Regen bei für die Jahreszeit ziemlich lausigen Temperaturen. Westfalen empfing seine finalen Gäste mit echtem Insel-Wetter.

Die Duellanten um den UEFA-Pokal 2001, sie hätten unterschiedlicher kaum sein können. Von der Papierform her ein Duell zwischen Goliath und David.

Der Goliath – FC Liverpool:

18 englische Meistertitel standen am Tag des Endspiels auf dem Briefkopf, dazu je sechs FA- und Liga-Cup-Siege. Viermal hatten die „Reds“ den Europapokal der Landesmeister gewonnen und zweimal auch schon den UEFA-Cup. Ein Traditionsklub, der wie wenige andere für die Ur-Tugenden des britischen Fußballs stand und steht: für Leidenschaft, Kampf und den unerschütterlichen „Never give up“-Spirit.

Der FC Liverpool – ein Verein, bei dem Legenden wie Bob Paisley und Bill Shankly auf der Trainerbank gesessen hatten. Jener Shankly, von dem eine Aussage stammt, die wie in Stein gemeißelt bis heute für das Selbstverständnis der Marke FC Liverpool steht. „Einige Leute“, hatte der Trainer einst angemerkt, „halten Fußball für einen Kampf um Leben und Tod. Ich mag diese Einstellung nicht. Ich versichere Ihnen, dass es viel ernster ist.“ Jener Shankly auch, der am Ende des Tunnels, durch den die Spieler von den Kabinen aufs Feld gelangen, eine Tafel anbringen ließ. Aufschrift: „This is Anfield!“ Nicht irgend ein Stadion, sondern DAS Stadion. Eine Aufschrift wie eine Mahnung an jeden Gegner: Zeigt gefälligst Respekt! Und eine Warnung: Habt gefälligst Angst!

Der FC Liverpool – ein Verein, für den Legenden wie John Toshack, Ian Rush, Kenny Dalglish und Kevin Keegan auf dem Platz gestanden hatten, Graeme Souness, Ian Callaghan, Jamie Carragher und Steven Gerrard.

Der FC Liverpool – ein Verein, dessen Stadion an der Anfield Road zu den bedeutendsten Fußball-Kultstätten zählt. Mit einer Tribüne, „The Kop“ genannt, die, als sie noch eine Stehtribüne war, so gefürchtet war wie die „Gelbe Wand“ im Signal Iduna Park. Mit einer Lautstärke, die lange Zeit alles in den Schatten stellte, was man an Anfeuerung kannte. Der „Liverpool-Roar“ ist gleichermaßen ein Naturereignis, die Anfield Road also ein FußballweltKULTURerbe und der „Roar“ ein FußballweltNATURerbe. An jenem 16. Mai 2001 wurde die Nordtribüne des Signal Iduna Parks zu „The Kop“, denn dort standen – nicht saßen – die meisten Fans des Klubs aus der Beatles-Stadt.

Genug der Schwärmerei. Genug vom Goliath – und damit zum David: CD Alaves.

Club Deportivo Alavés, so der vollständige Name, ist das krasse Gegenteil. Tradition, gewiss, die hat der Verein auch. 1921 gegründet, ist der Briefkopf gleichwohl blank. Erfolge: Fehlanzeige. Nicht einmal eine Stadt ist Alavés, sondern eine Provinz. Die Stadt, in der CD spielt, heißt Vitoria-Gasteiz und ist zugleich Hauptstadt der spanischen autonomen Region Baskenland. Soweit der kleine geographische Exkurs.

Einzige Berühmtheit des Klubs ist Andoni Zubizareta, 126-facher Nationaltorwart und 1987 Spaniens Fußballer des Jahres. Für CD spielte er nur kurz – sein Transfer verhinderte immerhin den Konkurs des Vereins. Erfolge feierte er erst mit dem FC Barcelona und mit Athletic Bilbao, der Nummer eins im baskischen Fußball, gefolgt von Real Sociedad San Sebastian. Dahinter erst folgt mit Abstand CD Alaves, ein Klub, der es bis heute, Stand 2013, nicht einmal auf ein Dutzend Spielzeiten in der Primera Division bringt. Fünf in Folge, mithin die beste Phase der Klubgeschichte, von 1998 (Wiederaufstieg nach 42 Jahren) bis 2003.

Der Einzug der Basken ins Finale war die große Überraschung der UEFA-Cup-Saison 2000/01, zumal sie auf ihrem Weg nach Dortmund beileibe nicht nur sportliches Fallobst zugelost bekamen. Auf Gaziantespor (Türkei) und Lilleström (Norwegen) folgte mit dem Champions-League erfahrenen Rosenborg Trondheim der erste echte Gegner und anschließend mit Inter Mailand die vermeintliche Endstation. Doch Alaves setzte sich nach einem 3:3 daheim im Rückspiel in San Siro mit 2:0 durch, schaltete anschließend auch den Ligarivalen Rayo Vallecano aus und zerlegte im Halbfinale den 1. FC Kaiserslautern in der Addition der Spiele (5:1, 4:1) mit 9:2.

Den deutlich anspruchsvolleren Weg allerdings hatte der FC Liverpool. Auf Rapid Bukarest, Slovan Liberec und Olympiakos Piräus folgten der AS Rom (2:0 A, 0:1 H), der FC Porto und schließlich der FC Barcelona, damals noch als holländische Filiale mit Reiziger, de Boer, Cocu, Overmars, Kluivert – und einem gewissen Pep Guardiola als Denk- und Lenkzentrum im Mittelfeld. Nach einem 0:0 in Nou Camp nutzte Liverpool den Heimvorteil im Rückspiel und löste durch ein 1:0 das Final-Ticket.

Im Endspiel galten die „Reds“, die vier Tage zuvor den FA-Cup gewonnen hatten, als turmhoher Favorit. Und so begannen sie auch – vor 48.000 Zuschauern. „Nur“ 48.000 Zuschauer, weil die Ecken des Westfalenstadions seinerzeit noch nicht ausgebaut waren. Das Team von Trainer Gerard Houllier mit den jungen Michael Owen und Steven Gerrard, mit den beiden Deutschen Markus Babbel und Didi Hamann und mit dem finnischen Abwehr-Hünen Sami Hyypiä, führte nach einer Viertelstunde durch Babbel und Gerrard mit 2:0. Zwar gelang Ivan Alonso der Anschluss, doch Gary McAllister stellte unmittelbar vor der Pause den Zwei-Tore-Abstand wieder her. Spätestens mit diesem Treffer schien die Messe im Dortmunder Fußball-Tempel gelesen.

Doch der Außenseiter kam zurück – und wie! Binnen drei Minuten glich Javi Moreno zum 3:3 aus (48./51), und nach Liverpools neuerlicher Führung durch Robbie Fowler (73.), trat eine Minute vor dem Schlusspfiff ein Mann auf den Plan, dessen legendärer Vater Johan 27 Jahre zuvor an selber Stätte im WM-Zwischenrundenspiel gegen Brasilien ebenfalls Fußball-Geschichte geschrieben hatte: Jordi Cruyff.

4:4 also. Verlängerung. Und die endete nach 27 von 30 Minuten vorzeitig, weil Delfi Geli einen Freistoß von McAllister per Kopf ins lange Eck verlängerte. Dummerweise ins lange Eck des eigenen Tores. Was das Drama komplett machte: Erstens – Torwart Martin Herrera, der direkt hinter Geli heran geflogen kam, hätte den Ball problemlos aus der Gefahrenzone gefaustet. Zweitens – den nach zwei gelb-roten Karten in doppelter Unterzahl agierenden Basken blieb diesmal keine Restzeit für eine sportliche Antwort. Es war ein „Golden Goal“, ein goldenes Eigentor. Das Spiel war aus! Es endete kurz nach Mitternacht als baskische Tragödie und als britisches Freudenfest. Erster Sieger: Liverpool. Zweiter Sieger: Alaves. Dritter Sieger: der Fußball. Vierter Sieger: die Fußball-Hauptstadt Dortmund und ihr unglaubliches Stadion.

Liverpools deutscher Nationalspieler Didi Hamann war nach dem Spiel mit den Nerven am Ende: „Auch wenn wir letztlich gewonnen haben, hoffe ich, das war das erste und das letzte Mal, dass ich so etwas erleben musste.“ Und Trainer Houllier sagte seinem Team nach dem ersten Europacup-Triumph nach 17 Jahren voraus: „Die Mannschaft wird unsterblich werden.“ Immerhin für Teile der Mannschaft trat die Prognose ein, denn Gerrard, Hamann, Hyypiä und Jamie Carragher waren im Gegensatz zu Houllier selbst auch vier Jahre später noch dabei, als der FC Liverpool die Champions League gewann – in einem noch unglaublicheren Finale als es das 2001er gegen Alaves gewesen war.

In Istanbul lagen die „Reds“ 2005 gegen den AC Mailand zur Pause mit 0:3 (Tore: Hernan Crespo 2, Paolo Maldini) zurück, und wer zur Pause gegen den AC Mailand mit 0:3 zurück liegt, hat eine Siegchance im Promillebereich. Liverpool nutzte sie. Das Team brauchte nach dem Wechsel ganze sechs Minuten (54. – 60.), um durch Gerrard, Vladimir Smicer und Xabi Alonso auszugleichen. Im Elfmeterschießen versiebten dann Milans Superstars Serginho, Andrea Pirlo und Andrij Schewtschenko; die Briten triumphierten schließlich mit 6:5.

Von Toren aus

Gold und Silber

Um die Verlängerung im Fußball spannender zu machen, führte der Fußball-Weltverband FIFA in den 1990-er Jahren das „Golden Goal“ ein. Die Regel besagte – in Anlehnung an den Sudden Death („Plötzlicher Tod“) beim Eishockey –, dass ein Spiel beendet ist, sobald in der Verlängerung ein Tor fällt. Das UEFA-Cup-Endspiel 2001 in Dortmund zwischen Liverpool und Alaves war nicht das einzige, das durch einen solchen Treffer jäh entschieden wurde – wohl aber das einzige bedeutsame Spiel, in dem das „Golden Goal“ ein Eigentor war.

Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft gewann ihren bis heute letzten Titel durch ein „Golden Goal“. Oliver Bierhoff erzielte es im Finale der Europameisterschaft 1996 im Londoner Wembley-Stadion in der 95. Minute zum 2:1 gegen Tschechien.

Gleich zweimal profitierte die deutsche Frauen-Nationalmannschaft von der Regel. Das Finale der Heim-EM 2001 in Ulm gewann sie durch einen Treffer von Claudia Müller in der Verlängerung; im Endspiel der WM 2003 in den USA war Nia Künzer erfolgreich – beide Treffer fielen in der 98. Minute.

Frankreich bemühte das „Golden Goal“ auf dem Weg zum Titelgewinn bei der Heim-EM 2000 zweimal. Das Halbfinale gegen Portugal beendete Zinedine Zidane nach 117 Minuten durch einen verwandelten Handelfmeter; im Endspiel gegen Italien traf David Trezeguet in der 103. Minute. Besondere Tragik für die Italiener: Sylvain Wiltord hatte Frankreich erst in der 90. Minute mit seinem Treffer zum 1:1-Ausgleich überhaupt in die Verlängerung gerettet.

Bei Weltmeisterschaften fielen vier „Golden Goals“. 1998 besiegte Frankreich im Viertelfinale Paraguay; 2002 setzten sich im Achtelfinale Senegal gegen Schweden und Südkorea gegen Italien durch; im Viertelfinale war die Türkei gegen den Senegal erfolgreich.

Der europäische Fußball-Verband UEFA änderte die Regel 2002 ab und führte das „Silver Goal“ ein. Danach wurde bei einem Torerfolg in der Verlängerung die laufende Halbzeit der Verlängerung noch zu Ende gespielt.

Auf diese Weise setzte sich Griechenland im Halbfinale der EM 2004 in Portugal gegen Tschechien durch. Weil Traianos Dellas allerdings in der Nachspielzeit der ersten Hälfte der Verlängerung (105 + 1) erfolgreich war, kam der Treffer einem „Golden Goal“ gleich – die Partie war danach sofort beendet.

Die Europameisterschaft 2004 war zugleich das letzte Turnier, bei dem die von Anfang an unbeliebte Regel der verkürzten Verlängerung angewendet wurde. 2004 schafften die Verbände sie wieder ab.

Die alte Dame klingelte zur falschen Zeit

Juve also. Juventus Turin vs. Borussia Dortmund. Ein Europapokal-Klassiker der 1990er Jahre erlebt im Achtelfinale der Champions-League-Saison 2014/15 einen frischen Aufguss. Jener Klub, der seinerzeit im italienischen Fußball das Maß aller Dinge war und es nach (Bestechungs-)Skandalen, Zwangsabstieg und Wiederaufstieg inzwischen wieder ist, fordert jenen Klub heraus, der ihn damals fast leer gekauft hat. Stefan Reuter, Andreas Möller, Julio Cesar, Jürgen Kohler, Paulo Sousa – sie alle wechselten in der ersten Hälfte der 90er Jahre von Juventus zur Borussia. Mit dem einen, dem schönen Ergebnis, dass der BVB die „alte Dame“ Juve im CL-Finale 1997 besiegte. Und mit dem anderen, dem unschönen Ergebnis, dass Borussia wenige Jahre später quasi pleite war.

Die Geschichte der UEFA-Cup-Endspiele 1993 zwischen Juve und dem BVB könnt Ihr, reich bebildert, in meiner Westfalenstadion-Hommage „Jetzt muss ein Wunder her – Die 25 größten Spiele im Fußball-Tempel des BVB“ nachlesen. Bestellen könnt Ihr das Buch unter den folgenden beiden Links. Wem die nackte Version reicht, der muss hier nur weiterlesen . . .

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Bor. Dortmund – Juventus Turin 1:3 (1:2)

(5. Mai 1993, UEFA-Pokal-Finale, Hinspiel)

Lediglich zweimal war Dortmunds Fußball-Oper in vier Jahrzehnten Schauplatz eines europäischen Endspiels. Das erste und einzige mit Beteiligung von Borussia Dortmund stieg am 5. Mai 1993. Es war zugleich der Auftakt zu einer Trilogie zwischen dem BVB und Italiens alter Dame Juventus Turin.

93 – 95 – 97

Im Rhythmus von zwei Jahren standen sich die beiden Klubs Mitte der 1990er dreimal auf höchstem Niveau gegenüber. 1993 setzte Juve sich in den damals noch zwei Finalspielen des UEFA-Cups, dem Vorgänger der heutigen Europa League, deutlich durch. 1995 im Halbfinale desselben Wettbewerbs war es erheblich enger. Und wieder hieß der Sieger Turin. Doch aller guten Dinge sind bekanntlich drei – und so entschied der BVB 1997 das hochwertigste der drei Duelle, das Endspiel der Champions League, für sich.

Im Mai 1993 war der BVB, der sich durch die Vizemeisterschaft gleich im ersten Jahr unter Trainer Ottmar Hitzfeld für den Wettbewerb qualifiziert hatte, letztlich nicht bereit für eine Herausforderung dieser Größenordnung. Das Team kroch personell auf dem Zahnfleisch. Matthias Sammer, im Winter von Inter Mailand an die Strobelallee gekommen, war international noch nicht für Borussia spielberechtigt. Stammlibero Ned Zelic war verletzt und musste durch Amateur Uwe Grauer ersetzt werden. Der war in den zehn UEFA-Cup-Spielen bis zum Finale zwar schon dreimal zum Einsatz gekommen – allerdings in Summe gerade einmal 22 Minuten: sechs gegen Celtic Glasgow, eine gegen AS Rom, 15 gegen AJ Auxerre. Und nun sollte er gegen eine der spielstärksten Offensivreihen Europas eine Abwehr organisieren, die völlig neu formiert war. Denn auch Michael Schulz und Günter Kutowski fehlten. „Kutte“ war vom europäischen Verband gleich für beide Finals gesperrt worden, weil er im Halbfinale gegen AJ Auxerre zunächst seine zweite gelbe Karte im Wettbewerb und anschließend auch noch Gelb-Rot gesehen hatte. Da Hitzfeld in der Offensive auch Flemming Povlsen ersetzen musste, sanken die Chancen auf den ersten internationalen Titel seit 1966 schon im Vorfeld auf ein rechnerisches Minimum.

Jammerschade, denn der BVB hatte bis dahin eine wirklich tolle Europapokal-Saison gespielt und sich den Finaleinzug redlich verdient. Dem standesgemäßen Erstrundensieg gegen die maltesischen Feierabend-Kicker des FC Floriana (1:0/A, 7:2 H) folgten ein umkämpftes Duell gegen Celtic Glasgow (1:0/H, 2:1/A) und ein Drittrunden-Erfolg gegen Real Saragossa, der letztlich souveräner war, als es die Ergebnisse (3:1/H, 1:2/A) zum Ausdruck brachten. Im Viertelfinale gegen AS Rom (mit dem deutschen Nationalspieler und späteren Dortmunder Thomas Häßler) drehte Borussia die 0:1-Auswärtsniederlage im Rückspiel vor eigenem Publikum mit 2:0 um (Tore: Michael Schulz, Thomas Sippel). Im Halbfinale schließlich legten sie gegen AJ Auxerre ein 2:0 vor. Steffen Karl (59.) und Michael Zorc (88.), der wenige Minuten zuvor noch mit einem Elfmeter am französischen Schlussmann Bruno Martini gescheitert war, schossen die Tore.

Das Rückspiel entwickelte sich zu einem der größten Dramen der schwarz-gelben Europacup-Historie. Auxerre ging früh in Führung und erzwang in der zweiten Halbzeit die Verlängerung. In der flog erst Günter Kutowski mit Gelb-Rot vom Platz (98.), neun Minuten später erwischte es auch AJ-Akteur Raphaël Guerreiro. Tore fielen auch bei Zehn-gegen-Zehn nicht mehr. Elfmeterschießen also – und auch das musste, nachdem die ersten zehn Schützen allesamt verwandelt hatten (Karl, Stephane Chapuisat, Knut Reinhardt, Schulz und Zorc für den BVB) in die Verlängerung. Dort traf Michael Rummenigge für die Westfalen, und Torwart Stefan Klos parierte gegen Stephane Mahé. Riesenjubel bei den Dortmundern, Riesenjubel auch in Dortmund, wo 20.000 Fans den Elfmeter-Krimi vor einer Großleinwand auf dem Friedensplatz verfolgten.

Und nun also Juventus Turin. Mit Trainerfuchs Giovanni Trapattoni. Mit dem Ballkünstler Roberto Baggio, den die UEFA später zu Europas Fußballer des Jahres 1993 kürte. Mit Dino Baggio. Mit Gianluca Vialli. Zwar nicht mehr mit Stefan Reuter, der ein Jahr zuvor bereits zum BVB gewechselt war. Dafür aber mit drei Spielern, die in den folgenden Jahren ebenfalls noch zum BVB wechseln sollten: Andreas Möller, Julio Cesar, Jürgen Kohler. Borussia Dortmund und Juventus Turin – das war in den 1990er Jahren nicht nur eine sportliche Rivalität, sondern auch eine florierende Geschäftsbeziehung. Der BVB-Vorstand Niebaum/Meier kaufte gerne bei den Norditalienern ein.

Das Duell wurde zu einer einseitigen Auseinandersetzung. „Wir hätten auch in Bestbesetzung Probleme gehabt“, räumte Ottmar Hitzfeld später ein. Das Improvisationstheater-Ensemble, das er im Hinspiel vor 37.000 Zuschauern auf den Platz schicken musste, hatte aber nicht nur Probleme. Es hatte Riesenprobleme. Wobei: nicht von Anfang an. Im Gegenteil. Der BVB erwischte einen Blitzstart, ging nach nur 61 Sekunden und feiner Vorarbeit von Reinhardt durch Rummenigge in Führung, setzte seinen Sturmlauf auch danach noch eine Weile fort. Wer weiß, ob Juve sich von dem Schock erholt hätte, wenn Michael Lusch das 2:0 gelungen wäre – der Ball strich um Zentimeter am linken Pfosten vorbei.

Hätte – wäre – wenn. Tatsächlich reichten den gnadenlos abgezockten Italienern drei Minuten, um das Finale zu ihren Gunsten zu kippen. Dino Baggio glich aus (27.), Roberto Baggio, mit seinem Namensvetter übrigens weder verwandt noch verschwägert, brachte die Gäste nach einer halben Stunde in Führung und legte eine Viertelstunde vor Schluss nach – 1:3. Der Drops war damit im Grunde schon gelutscht. „Die beiden Super-Baggios waren einfach nicht zu halten“, schwärmte die „Gazzetta dello Sport“. Und während Bundestrainer Berti Vogts höflich konstatierte, „ein 2:2 wäre auch gerecht gewesen“, gaben sich die Schwarz-Gelben realistisch. „Juve war eine Nummer zu groß“, sagte Torwart Klos. Manager Meier hatte Turin „eine Klasse besser“ gesehen. Und Trainer Hitzfeld musste einräumen: „Wir sind eiskalt ausgekontert worden.“

Vor dem Rückspiel im Stadio delle Alpi mussten dann auch Zorc und Chapuisat verletzungsbedingt passen. Noch vor der Pause erwischte es zudem Rummenigge. Es fehlte nicht viel, und Hitzfeld hätte Fußlahme mit Gehhilfe oder Rollator einwechseln müssen. Allerletzte Zweifel am Sieger räumte Dino Baggio nach nur fünf Minuten aus; kurz vor der Pause erhöhte er auf 2:0 – und ausgerechnet Möller, der Ex- und Bald-wieder-Dortmunder, setzte den Schlusspunkt (65.). Den 4.000 mitgereisten Fans war’s wurscht. Auch der Dauerregen störte sie nicht. Sie feierten trotzdem.

1:3 + 0:3 = 1:6. Die Endspiel-Gleichung war beinahe schon Mitleid erweckend. „Wir haben Juventus Turin, diese absolute Klassemannschaft, mit unserem ersatzgeschwächten Team definitiv zum falschen Zeitpunkt erwischt“, haderte Hitzfeld, der sich sein erstes ganz großes Finale natürlich anders vorgestellt hatte.

Als der BVB 1994/95 im UEFA-Cup-Halbfinale erneut auf Turin traf, hatten nach Reuter auch Möller und Cesar die Seiten gewechselt. Allein Kohler spielte noch für Juve. Möller war es auch, der Borussia im Hinspiel in Italien in der 71. Minute mit 2:1 in Führung brachte; Kohler glich zwei Minuten vor dem Schlusspfiff aus. Im Rückspiel war Cesar zum zwischenzeitlichen 1:1 für Dortmund erfolgreich. Doch wiederum war es Roberto Baggio, der mit seinem 2:1-Siegtor Juve ins Finale und Borussia aus dem Wettbewerb schoss. Und so fehlt der UEFA-Cup bis heute im Trophäenschrank des BVB.

Vor 20 Jahren: Ricken müsste schießen – Ricken schießt – Toooooooooor!!!

Die fabelhafte Fußballliebhaber-App "MitPicke", die Ihr kostenlos downloaden könnt, hat zu den "Wunder"-Spielen BVB - La Coruna und BVB - Malaga ein umfangreiches Themenpaket geschnürt.

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Dortmund im Spätherbst 2014 – eine Stadt trägt Grau. Die sportliche Talfahrt des BVB hat sich in den zurückliegenden Wochen wie ein Depressivum über die Stimmung der Menschen gelegt. Ein wenig wirkt es, als hätten sie, wie einst Timm Thaler, ihr Lachen verkauft.

Auf der Suche nach Erfolgserlebnissen müssen Fans dieser Tage in ihren Erinnerungen kramen. Dort werden sie reichlich fündig – zum Beispiel am 6. Dezember 1994. Nikolaus vor exakt 20 Jahren erlebte das Westfalenstadion eines jener Spiele, die als „legendär“ in die Klubgeschichte eingingen. „La Coruna“ und „Lars Ricken“ – mehr muss man gar nicht sagen . . .

Aus Anlass des Jubiläums habe ich das „La-Coruna-Kapitel“ aus meinem Buch „Jetzt muss ein Wunder her – Die 25 größten Spiele im Fußball-Tempel des BVB“ als Blogbeitrag eingestellt. Und wenn Ihr weiter herunterscrollt oder auf den folgenden Link klickt, findet Ihr dort unter der Überschrift „Selbst Julio Cesar ist völlig ausgerastet“ auch den Gastbeitrag von Lars Ricken. http://goo.gl/v9Vjzh

Das Buch ist, nebenbei bemerkt, zauberhaftes Weihnachtsgeschenk für BVB-Fans. Bestellen könnt Ihr es z.B. unter http://goo.gl/0WKSn5 und http://goo.gl/QLOC52

BORUSSIA DORTMUND – DEPORTIVO LA CORUNA 3:1 n.V. (1:0, 0:0)

(6. Dezember 1994, UEFA-Cup-Achtelfinale, Rückspiel)

18 ½ Jahre lang galt die Partie gegen La Coruna als der „Hitchcock“ unter den Europapokal-Krimis auf Dortmunder Boden. 18 ½ Jahre – dann kamen die legendären 69 Sekunden im Champions-League-Halbfinale 2012/13 gegen den FC Malaga. Heute genießen beide Begegnungen Kultstatus. Was sie verbindet, ist die hoch dramatische Schlussphase mit zwei ganz späten Treffern und einer nicht mehr für möglich gehaltenen Wendung. Viele Fans, die auch andere große Duelle der Borussia live im Stadion miterlebt haben, beschreiben dennoch das Rückspiel im UEFA-Cup-Achtelfinale der Saison 1994/95 gegen den spanischen Vertreter Deportivo La Coruna als  e i n e n  Allzeit-Höhepunkt.

Beispielhaft zwei kurze Schilderungen aus dem Forum des Internet-Fanzines schwatzgelb.de. Dort schreibt ein User mit dem Nickname . . .

. . . Rupo:

„Ich war 28, mit Kumpels im 11er (Block 11, Südtribüne/Anm. des Autors) und bekomme jedesmal Gänsehaut, wenn ich an den Moment denke, als Bodo Schmidt den Ball gegen das Schienbein bekommt, der Ball nach rechts (von uns aus nach links) rollt, Ricken ihn aufnimmt, Riedle in der Mitte startet, Ricken das völlig egal ist . . . er abzieht (da wussten wir, datt Dingen passt), die Murmel unter der Latte einschlägt, hinter die Linie, Ricken abdreht nach rechts – und wir nach unten auf der Süd 😉 . . . Ich werde DIESES TOR niemals in meinem ganzen Leben vergessen!“

Und auch für Searcher 78 hat sich dieses Spiel, als Vater-Sohn-Erlebnis, für alle Zeiten im Gedächtnis festgefressen:

„Nach dem 1:1 war ich total geknickt, quasi alle Hoffnung verloren. Ich war zu dem Zeitpunkt 16. Neben mir saßen mein Vater und mein Onkel. Als die Spanier noch feiern, meint mein Vater ganz trocken: „Keine Sorge, die packen das noch!“ Ich hab’ ihn ungläubig angeguckt und er war sich wirklich absolut sicher. Dann vergingen die Minuten und das Ende der Verlängerung rückte immer näher. Mein Onkel, der am nächsten Tag sehr früh arbeiten musste, hatte sich auf den Weg Richtung Parkplatz gemacht – ein folgenschwerer Fehler. Die letzten Minuten sind halt Legende, mein Onkel hat beim Jubel zum 2:1 noch überlegt, ob er schnell zurück laufen soll, aber was sollte in den paar Minuten dann schon passieren. Kurze Zeit später ist er beim Ohren betäubenden Jubel, der hinter ihm erklang, vor einen Baum gelaufen und hat sich eine ziemliche Beule geholt. Im Stadion stand mein Vater neben mir mit Tränen in den Augen: ‚Hab’ ich doch gesagt!’ Für mich DAS Spiel überhaupt, ich weiß nicht, wie viele hundert Male ich mit meinem Vater an genau diese letzten Minuten zurück gedacht habe . . ., na ja, seit einiger Zeit denke ich alleine an dieses Spiel zurück, aber ich hoffe, irgendwann einmal meinen Kindern davon erzählen zu können. Ich war auch beim Champions-League-Finale in München und hab’ alle Meisterschaften im Stadion erlebt, aber ich glaube, dieses Spiel wird mir von allen am meisten in Erinnerung bleiben.“

Der deutsch-spanische Liga-Gipfel

Das Duell zwischen Borussia Dortmund und Deportivo La Coruna war im Herbst 1994 nicht irgendein Duell zwischen einem Bundesligisten und einem Primera-Division-Klub. Es war sozusagen der deutsch-spanische Liga-Gipfel. Der BVB, von Präsident Dr. Gerd Niebaum und Manager Michael Meier in den Jahren zuvor mit gigantischem Finanzaufwand und den Italien-Rückkehrern Matthias Sammer, Andreas Möller, Karlheinz Riedle, Stefan Reuter sowie mit Julio Cesar, Flemming Povlsen und Stéphane Chapuisat hochgerüstet, führte die Bundesliga-Tabelle souverän an. Am Ende der Saison sollte der erste Deutsche Meistertitel nach 32-jähriger Durststrecke stehen.

La Coruna wiederum stieg ab Anfang der 1990er Jahre in den Kreis der spanischen Spitzenteams auf und krönte diese Entwicklung mit der Meisterschaft 2000 sowie den Pokalsiegen 1995 und 2002 – ehe es, wie in Dortmund nach der 2002er Meisterschaft, wieder bergab ging. 1992/93 hatten sich die Galizier als Dritter hinter dem FC Barcelona und Real Madrid erstmals für einen europäischen Wettbewerb qualifiziert und waren ein Jahr später punktgleich nur aufgrund des etwas schlechteren Torverhältnisses hinter Barca spanischer Vizemeister geworden. Zum Zeitpunkt des Aufeinandertreffens mit dem BVB lag Deportivo gleichauf mit Real Saragossa und Real Madrid an der Tabellenspitze der Primera Division.

Bebeto entscheidet das Hinspiel zugunsten von La Coruna

Da trafen also keine No-Name-Teams aufeinander, sondern zwei aufstrebende Top-Klubs mit Top-Leuten. Der bekannteste im Kader von La Coruna: Bebeto, brasilianischer Nationalspieler, als Sturmpartner von Romario frischgebackener Weltmeister, spanischer Torschützenkönig – und Schütze des 1:0 im Hinspiel gegen den BVB. Da pflasterte er das Leder schon nach 23 Minuten unhaltbar in den Winkel. Dortmund hatte in der Folge Glück, dass Stefan Klos einige tolle Paraden zeigte und der Schweizer Unparteiische Serge Muhmenthaler einem weiteren Treffer der Spanier wegen angeblicher Abseitsposition zu Unrecht die Anerkennung verweigerte. Dortmund hatte aber auch Pech bei einem Lattenkracher von Sammer und einer weiteren Fehlentscheidung des Schiedsrichters, der bei Chapuisats vermeintlichem Ausgleich ebenfalls auf Abseits entschied. Auch damit lag er daneben.

Der BVB musste 14 Tage später, am Nikolausabend, im eigenen Stadion also einen Rückstand umbiegen. Dass er das konnte, hatte er zuvor bereits bewiesen, denn nach glanzlosen Erstrunden-Erfolgen gegen den FC Motherwell aus Schottland (1:0/H, 2:0/A) setzte es in Runde zwei bei Slovan Bratislava eine 1:2-Niederlage. Riedle (2) und Möller sorgten im Rückspiel beim 3:0 für klare Verhältnisse.

Zorc gleicht im Rückspiel aus – doch in der Verlängerung spricht ALLES für die Spanier

La Coruna allerdings war ungleich schwerer zu knacken, und so dauerte es auch bis zur 50. Minute, ehe Michael Zorc mit dem 1:0 in der Addition beider Spiele der Ausgleich gelang. Zweimal trafen die Iberer in der Folge durch Fran (59.) und Salinas (68.) die Latte; der BVB wurde von Borussia zu Fortuna Dortmund. Es ging in die Verlängerung, und in der hatte Deportivo das Geschehen nicht nur im Griff – der Gast holte in der 102. Minute auch zum scheinbar finalen Schlag aus, als Alfredo nach einem Sensationslupfer plötzlich frei vor Klos auftauchte und den Ball zum 1:1 über den Keeper hinweg ins lange Eck setzte. Schockstarre auf den Rängen. Nun benötigte das Team von Ottmar Hitzfeld wieder zwei Tore – und es waren nur noch 18 Minuten zu spielen. Dann 15 . . . 10 . . . 7, 6, 5.

„Ich habe den Spielern schon oft gepredigt, dass selbst zwei Minuten vor dem Ende nichts entschieden und ein Wunder im Fußball immer möglich ist“, sagte Hitzfeld später. Ob der BVB-Trainer auch daran geglaubt hat, sagte er nicht.

Fünf Minuten vor Schluss fehlen dem BVB zwei Treffer. Viele Zuschauer gehen schon . . .

Die meisten Zuschauer jedenfalls hatten den Glauben und die Hoffnung verloren; viele hatten sich bereits auf den Heimweg gemacht und die Sitzreihen auf den Tribünen ließen deutliche Lücken erkennen, als Sammer im Mittelfeld in wilder Entschlossenheit den Ball eroberte, Möller in den Strafraum flankte und wer sonst als „Air“ Riedle zum 2:1 vollendete. Es war die 116. Minute. Nur noch ein Tor. Und noch 4 Minuten . . . 3, 2 . . . Noch ein letztes Mal der BVB. Bodo Schmidt, der Manndecker, fräste sich in zentraler Position durch den spanischen Beton, von seinem Schienbein prallte der Ball Lars Ricken vor die Füße. Der 18-Jährige, als Joker eingewechselt, guckte nicht rechts und nicht links. Er schaute in den Tunnel, und am Ende des Tunnels stand das Tor.

. . . und verpassen eines der „Wunder von Dortmund“

Manch einer unter den älteren Zuschauern mag sich in diesem Moment an Herbert Zimmermanns Live-Reportage vom WM-Endspiel 1954 zwischen Deutschland und Ungarn erinnert haben. An sein Unvergessenes „Rahn müsste schießen – Rahn schießt . . .“ Rahn hieß diesmal Ricken. Ricken musste schießen – Ricken schoss – und der Rest klang 1994 im Dortmunder Westfalenstadion genau so wie 40 Jahre zuvor im Berner Wankdorfstadion: „Tooooor!!!“ Mit dem rechten Fuß nagelte Ricken den Ball aus zehn Metern Entfernung via Lattenunterkante ins Netz. Ein Schuss mitten ins pure Glück.

BVB-Fan Vito_Corleone erinnert sich auf schwatzgelb.de:

„Die Süd explodiert, aber es ist keine einfache Explosion, keine Verpuffung. Die Süd bebt wie ich es noch NIE davor und NIE danach erlebt habe. Die Explosion dauert minutenlang, so stelle ich mir einen Multiorgasmus vor, hier multipliziert durch die Tausende auf der Süd, die im gleichen Moment so etwas Unbeschreibliches erleben.“

Sammer fand nicht so schöne Worte, gestand aber mit reichlich Pathos: „Dieses Ergebnis hat bei mir unglaubliche Emotionen freigesetzt. Vergleichbares habe ich erst zweimal erlebt: Beim Gewinn der Deutschen Meisterschaft mit Stuttgart und bei der Geburt meiner Tochter Sarah.“ Hitzfeld versuchte das wundersame Geschehen medizinisch zu diagnostizieren: „Wir waren klinisch fast tot, aber mit den allerletzten Herzschlägen haben wir uns aufgerappelt und ein anatomisches Wunder geschafft.“

Für Ricken, der das Angebot seines Trainers, ihm eine Entschuldigung zu schreiben, nicht annahm und stattdessen am nächsten Morgen brav die Schulbank drückte, war es das erste von mehreren legendären Europapokal-Toren. 1996/97 gegen Manchester United schoss er den BVB mit seinem goldenen Tor in Old Trafford ins Finale von München. Dort erzielte Ricken mit seinem 30-Meter-Heber zum 3:1-Endstand gegen Juventus Turin jenen Treffer, den die Fans von Borussia Dortmund anlässlich des 100-jährigen Bestehens im Jahr 2009 zum „Tor des Jahrhunderts“ wählten.

Die Europapokal-Saison 1994/95 trug Borussia Dortmund über Lazio Rom (0:1/A, 2:0/H – wieder durch ein Last-Minute-Tor, diesmal von Riedle) noch bis ins Halbfinale. Dort war Juventus Turin, wie schon in den 1993er UEFA-Cup-Endspielen, eine Nummer zu groß.

An den Jubelorkan vom 3:1 gegen Deportivo La Coruna kam lange Zeit kein Heimtor mehr heran. Erst Ewerthons 2:1-Meistertreffer gegen Werder Bremen am 4. Mai 2002 erreichte wieder vergleichbare Dezibelstärken und löste Vibrationsalarm auf der Südtribüne aus.

Lars Ricken: „Selbst Julio Cesar ist völlig ausgerastet!“

Ein Gastbeitrag von Lars Ricken, Schütze des entscheidenden Tores, zum legendären Europapokalspiel Borussia Dortmund – Deportivo La Coruna (6. Dezember 1994) für das Buch „Jetzt muss ein Wunder her – Die 25 größten Spiele im Fußball-Tempel des BVB.“ http://goo.gl/0WKSn5

Das Buchkapitel findet Ihr hier: http://goo.gl/UD5bdu

Lars Ricken:

„Selbst Julio Cesar ist völlig ausgerastet“ 

„Ganz ehrlich: Was mir zu allererst einfällt, wenn ich an den Abend des La-Coruna-Spiels denke, ist meine damalige Freundin. Die interessierte sich gar nicht für Fußball und war folgerichtig auch nicht im Stadion. Ich kam also sehr spät nach Hause, war der gefeierte Held des Spiels, gerade 18 Jahre alt und emotional natürlich entsprechend aufgewühlt – und meine Freundin forderte mich recht bestimmt auf, doch bitte das Geschirr abzutrocknen, das sie gerade gespült hatte. Ich merkte ganz vorsichtig an: „Du, wir hatten gerade ein Spiel – und ich würde mir das gerne noch einmal im Fernsehen anschauen.“ – „Ach, ja“, sagte sie, „Ihr habt ja gespielt. Habt Ihr denn gewonnen. Schön! Aber wenn Du gespielt hast, musst Du’s doch nicht noch einmal sehen . . .“ – Kurzum: Ich habe dann ein paar Minuten heraus verhandeln können, aber dann musste ich tatsächlich abtrocknen. Und so bin ich seinerzeit von meiner Freundin noch am Abend des Triumphes sehr schnell wieder geerdet worden.

Über diese Anekdote hinaus verbinde ich sportlich betrachtet vor allem drei Dinge mit dem Spiel gegen La Coruna.

Erstens: Natürlich dieses Tor. Mein Treffer zum 3:1 in der 118. Minute, der uns völlig unerwartet doch noch in die nächste Runde brachte. Ich habe in meiner Zeit beim BVB ja das eine oder andere Tor erzielt, darunter auch manches wichtige – aber dieser Treffer ist, zusammen mit dem Heber zum 3:1 im Champions-League-Finale gegen Juventus Turin, sicherlich derjenige, der mir in der Rückschau am meisten bedeutet. Einfach deshalb, weil es ein wundervolles Gefühl ist, sich mit diesen Toren für alle Zeiten in der Vereinsgeschichte eines so großen und traditionsreichen Klubs wie Borussia Dortmund eingetragen zu haben. Allerdings: In ein Lehrbuch wird es dieses Tor sicherlich nicht schaffen. Die Position und die Schusstechnik waren schon einigermaßen problematisch; ich treffe den Ball weder mit der Innenseite noch mit dem Vollspann, aber ich wollte ihn tatsächlich genau so schießen wie ich ihn dann geschossen habe. Anders wäre er nicht rein gegangen. Überhaupt war das so ein Ball, der von zehn Versuchen vermutlich neunmal irgendwo landet – nur nicht im Tor.

Und noch etwas ist ganz interessant. Ich stand zu meiner aktiven Zeit immer in dem Ruf: „Wenn der Ricken kommt, dann passiert noch was!“ Dabei habe ich in all den Jahren als Profi fast überhaupt keine Joker-Tore gemacht, aber ausgerechnet in den beiden Spielen gegen La Coruna und Juve kam ich tatsächlich von der Bank.

Zweitens: Ich habe ja einige Zeit mit Julio Cesar zusammengespielt, und Julio war als Sportler wie als Mensch immer ein relativ ruhiger, sachlicher und abgeklärter Kerl. Aber wie selbst er nach meinem Tor zum 3:1 regelrecht ausgerastet ist und dann auch ganz schnell als Erster auf mir drauf lag, zeigt, welch wahnsinnige Emotionen in diesem Moment freigesetzt wurden. Das ist eine sehr schöne Erinnerung, auch deshalb, weil Julio Cesar sicher eine der ganz großen Persönlichkeiten ist, die hier in Dortmund gespielt haben.

Drittens ist es absolut faszinierend, wie ein solches Tor dann 19 Jahre später noch einmal ins kollektive BVB-Gedächtnis zurückkehrt – am 9. April 2013 gegen Malaga. Genau das macht doch einen großen Vereins aus, dass es solche verbindenden Erlebnisse und gemeinsamen Ankerpunkte gibt. Jedenfalls: Als Malaga wenige Minuten vor Schluss in Führung ging und wir plötzlich zwei Tore brauchten, leerten sich die Plätze um mich herum doch merklich. Von denen, die sitzen blieben und ausharrten, sagten aber einige: „Mensch, Lars, jetzt brauchen wir noch einmal so ein Wunder wie damals gegen La Coruna.“ – Unter uns: Ich würde mich wirklich nicht als Pessimist bezeichnen wollen, aber geglaubt habe ich an eine Wende gegen Malaga nicht mehr. Ich war, wie die meisten anderen auch, so down, dass ich eigentlich keine Hoffnung mehr hatte. Erst im Nachhinein ist mir aufgegangen, was da nach dem 1:2 eigentlich passiert ist. Die Zuschauer sind noch einmal gekommen, Roman Weidenfeller stürmte mit einer Mischung aus Anfeuerung und Beschimpfung nach vorne, Jürgen Klopp verzog sich nicht etwa deprimiert auf die Trainerbank, sondern coachte weiter, als könne von einem drohenden Ausscheiden gar keine Rede sein. Diese Kette von Reaktionen war schon echt stark und ein Paradebeispiel für den Charakter dieses Teams und des Umfelds.

Gerade in solchen Momenten spielt unser Stadion immer wieder eine wichtige Rolle. Man merkt das schon an der Ehrfurcht der gegnerischen Teams, wenn sie den Rasen betreten und vor der gelben Wand stehen. Das flößt definitiv Respekt ein, und diese besondere Atmosphäre in Dortmund gewinnt dem BVB auch immer wieder den einen oder anderen Punkt. Für mich noch entscheidender und der große Unterschied zu vielen anderen Klubs ist aber, wie unsere Zuschauer sich verhalten, wenn es mal nicht so gut läuft. Wir haben diese Zeiten ja auch erlebt. Bei uns bleiben dann eben keine Blöcke aus Protest leer; unsere Fans drehen dem Spielgeschehen nicht den Rücken zu – sie sind auch und manchmal gerade dann für die Mannschaft da, geben Gas und versuchen zu helfen. Das ist wirklich einzigartig!“