Die Helden von Glasgow – Sigi Held: „Ich war doch auch nur einer von elf!“

Es gibt Aufträge, die sind Ehre und Fluch zugleich. „Schreib‘ doch bitte die Geschichte über Sigi Held“ – das ist so ein Auftrag. Eine Ehre, natürlich, über einen Borussen dieser Kategorie schreiben zu dürfen. Eine BVB-Legende der Ehrenkategorie. Ein Fluch natürlich auch, denn was willst du schreiben über einen, über den alles geschrieben worden ist?! Und zwar nicht einmal, sondern zig Mal.

Frage an Sigi Held: „Fällt Ihnen im Rückblick auf die Europapokal-Saison 1965/66 irgendetwas ein, eine Anekdote oder ein kleines Detail, das noch nie berichtet wurde?“ Antwort Sigi Held, den man nicht von ungefähr den „Schweiger“ nennt: „Nein.“ Kurze Pause. „Nichts!“ Kurze Pause. „Erinnerungen verblassen mit der Zeit.“

Nun könnte diese Geschichte hier enden. Oder man erzählt sie einfach mal anders. Man erzählt ausnahmsweise mal n i c h t die Geschichte von den „Terrible Twins“. So tauften die britischen Medien das schwarzgelbe Angriffsduo Sigfried „Sigi“ Held/Lothar „Emma“ Emmerich, das seinen Gegenspielern im Verbund mit Reinhard „Stan“ Libuda Knoten in die Beine spielte, im Halbfinale des Europapokals der Pokalsieger den Titelverteidiger West Ham United eliminierte und im Finale den FC Liverpool schlug. Wobei Held mit einem satten Vollspannschuss aus 17 Metern den 1:0-Führungstreffer erzielte. Alles bekannt. Alles Geschichte – aber nicht unsere Geschichte für hier und heute.

Erzählen wir lieber die Geschichte des großartigen Fußballers und des schier unglaublich bescheidenen und zurückhaltenden Menschen Sigi Held. Der im Rückblick Sätze wie diesen sagt: „Ich war nur einer von elf. In jeder erfolgreichen Mannschaft ist es doch letztlich so, dass der Einzelne nur glänzen kann, wenn das Kollektiv funktioniert.“ Klingt nach Fußball-Floskel, doch Sigi Held meint das genau so, wie er es sagt. Kaum einer ist an dieser Stelle glaubwürdiger als der Mann mit den buschigsten Augenbrauen nach Theo Waigel. Denn Sigi Held hat dieses Motto gelebt – als Spieler wie später als Trainer-Weltenbummler.

Eigentlich, und das verkompliziert das Schreiben dieser Geschichte ein klein wenig, schaut er gar nicht gerne zurück. „Natürlich ist Tradition für einen Klub wie Borussia Dortmund wichtig“, sagt er zwar. „Aber man darf nicht den Fehler machen, sich in der Vergangenheit zu verlieren. Wer zu lange im Gestern lebt, verliert die Gegenwart und die Zukunft aus den Augen – und das ist es, was wirklich zählt!“

Also blicken  w i r  zurück für Sigi Held, der 1942 als Kriegskind das Licht der Welt erblickte und über den TV Marktheidenfeld und Kickers Offenbach 1965 zum BVB kam. Der war gerade DFB-Pokalsieger geworden und stellte für den Bundesliga-Newcomer „die Eintrittskarte in die große Fußballwelt dar“.

Gleich im ersten Jahr gewann Held mit Borussia den Europapokal. Als Leistungsträger. Im Februar 1966 – eine Randepisode – schoss Held zunächst als erster Gast überhaupt auf die Torwand des ZDF-Sportstudios und feierte kurz darauf sein Länderspieldebüt. Alles andere als eine Randepisode, denn im Sommer desselben Jahres wurde er nicht nur mit dem BVB Deutscher Vizemeister, sondern auch Vize-Weltmeister. Vier Jahre später in Mexiko folgte Platz drei. Sigi Held wirkte binnen weniger Tage bei zwei „Jahrhundertspielen“ mit – erst beim 3:2 gegen England, dann beim 3:4 gegen Italien. Insgesamt 41 Länderspieleinsätze mit fünf Toren krönten seine aktive Laufbahn.

Eine große, beeindruckende Laufbahn und „eine wunderschöne Zeit“ – wie auch andere Zahlen belegen: 422 Bundesligaspiele mit 72 Toren, davon 230 für Borussia Dortmund (44 Tore), 133 für Kickers Offenbach (25) und 59 für Bayer Uerdingen (3). Hinzu kommen 49 Zweitliga-Einsätze (4 Tore), 47 DFB- (8) und 11 Europapokal-Spiele (4). Sigi Held ist Rekord-Bundesligaspieler der Kickers. Er kickte für Offenbach und Dortmund, dann wieder für Offenbach, dann noch einmal für Dortmund, ehe er, inzwischen 37-jährig, nach Uerdingen wechselte und zwei Jahre später mit den Krefeldern abstieg.

Es folgte „der schwarze Fleck auf meiner ansonsten blütenweißen Weste“, wie Sigi Held heute scherzt, wenn er auf das Kapitel FC Schalke 04 angesprochen wird. Die Knappen waren mit Uerdingen abgestiegen. „Rudi Assauer, mit dem ich ja 1966 Europapokalsieger geworden war, fragte mich, ob ich Schalke nicht als Trainer übernehmen wolle“, erinnert sich Sigi Held. „Ich war damals 39 und dachte: Okay, irgendwann musst du wohl mal mit dem Fußballspielen aufhören.“ Held führte S04 in die Bundesliga zurück – und erlebte, als es dort nicht auf Anhieb lief wie gewünscht, seine erste Beurlaubung.

Das Trainerleben, das sich an sein Schalke-Kapitel anschloss, hat so gar nichts gemein mit seiner bodenständigen, verwurzelten Spielerlaufbahn. Sigi Held arbeitete als Nationalcoach in Island, auf Malta und in Thailand. Er trainierte Galatasaray Istanbul in der Türkei, Admira Wacker in Österreich, Gamba Osaka in Japan, Dynamo Dresden und den VfB Leipzig. Ein Leben als Vagabund, das „so nie geplant“ war und nur funktionieren konnte, weil Gattin Christin zwischen der Heimat und dem Herrn Gemahl hin und her pendelte.

Im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 kürte die Stadt Dortmund Sigi Held zum WM-Botschafter. Beim BVB ist er seit 2007 Fanbeauftragter. Mitglied des Ältestenrates ist er obendrein. In all diesen Funktionen stand er stets und steht noch immer für Bescheidenheit und Demut. Und wenn, nach zwei oder drei weniger guten Spielen, die ersten von Krise zu reden beginnen, ist es Sigi Held, der sie wieder einfängt: „Wir haben ein phantastisches Stadion. Wir haben großartige Fans. Wir haben in den vergangenen Jahren so viele tolle Spiele erlebt und Erfolge gefeiert. Was wir in Dortmund erleben, sind goldene Zeiten.“