Vergangenen Sonntag, kurz nach 20 Uhr, zwitschert der Ex-Kollege, der viele Jahre über den BVB berichtet hat und dann journalistisch die Seiten wechselte, diesen Tweet, der die ganze königsblaue Ratlosigkeit in weniger als 140 Zeichen zum Ausdruck bringt: „Man darf also nach einem überzeugenden Sieg gegen Leipzig nicht erwarten, dass die Mannschaft in Hannover auch so auftritt?“ – Und das, nachdem er nullneun Minuten zuvor bereits diese Twitterfrage gefragt hatte: „Wie ist es nur möglich, dass #Schalke trotz wechselnden Führungspersonals seit Jahren keine Konstanz in die Mannschaft bekommt?“
Ich hab‘ ihm dann geantwortet, dass Schalke doch gar keine MANNSCHAFT ist. Und dass S04 die Probleme nicht trotz, sondern wegen des wechselnden Führungspersonals hat. Und dass ich die Tage vielleicht mal was dazu bloggen werde. Hier und jetzt also. Als Dortmunder, der sich eine einigermaßen treffende Analyse des BVB zutraut, bei den Blauen hingegen genau so im Vagen stochert wie die meisten Experten. Ich bin da ziemlich laienpsychologisch unterwegs, aber ich finde, so kompliziert ist es eigentlich gar nicht.
Hier also Borussia Dortmund. Ein Klub, bei dem Michael Zorc schon länger Sportdirektor ist als einige Spieler im aktuellen Kader alt sind. Bei dem Hans-Joachim Watzke seit 2004/05 mit Thomas Treß die Geschäfte führt. Bei dem Dr. Reinhard Rauball als Präsident im Hintergrund wirkt. Der Aufsichtsrat erledigt seinen Job unaufgeregt, tritt praktisch nie öffentlich in Erscheinung – oder kann irgend jemand hier den Namen eines Aufsichtsratsmitgliedes nennen? Es gibt mit Puma, Evonik und Signal Iduna strategische Partner, aber keinen Mäzen wie Hamburgs Kühne, der Unruhe herein tragen könnte, oder wie Clemens Tönnies, den Schalker Boss, der medial zwar deutlich zurückhaltender agiert als dereinst – aber genau das ist ja fast schon wieder irgendwie verdächtig.
Der BVB, im Februar 2005 mausetot, ist heute quicklebendig, finanziell fit wie ein Turnschuh. Rekordbilanz auf Rekordbilanz. Die Aktie auf 15-Jahres-Hoch. Er ist seither zweimal Meister und zweimal Pokalsieger geworden, stand vier weitere Male im Endspiel und einmal im Champions-League-Finale. Das ist sportliche Konstanz auf höchstem Niveau. Hinzu kommen U19- und U17-Titel in Serie. Selbst in der Nachwuchsarbeit also, die von Lars Ricken, einem weiteren Ur-Dortmunder mit Legendenstatus, verantwortet wird, hat Schwarzgelb der zurecht hochgelobten „Knappenschmiede“ zuletzt den Rang abgelaufen.
Kurzum: Beim BVB ist „Ruhe im Karton“. Das zeigt sich gerade in strubbeligen Phasen wie rund um die Trennung von Trainer Thomas Tuchel und die folgenden Transferturbulenzen um Pierre-Emerick Aubameyang und Ousmane Dembélé, in denen zwar die Medien durchgedreht sind – aber niemand beim BVB die Nerven verloren hat.
Dieser Klub hat in den zurückliegenden Jahren einige richtige Entscheidungen getroffen. Und ein bisschen Glück gehabt. Jürgen Klopp war zweifellos das größte. Thomas Tuchel war sportlich ebenfalls eine Erfolgsgeschichte. Man hat herbe Rückschläge hinnehmen müssen: wie den Weggang von Mario Götze, von Robert Lewandowski. Aber Borussia hat diese Verluste ebenso kompensiert wie sogar das „Triple“ von 2016 – den Auf-einen-Schlag-Abgang von Hummels, Gündogan und Mkhitaryan. Der BVB hatte dabei stets eine Spielidee, die von Klopps Vollgasfußball zu Tuchels Ballbesitzverliebtheit a la Pep Guardiola wechselte und nun unter Peter Bosz beide Stile zusammenführt. Es war also nicht immer DIE EINE Idee – aber es war immer eine IDEE. Und es gibt eine klare personelle Strategie, die auf einem Top-Scouting und dem mutigen Verpflichten junger Talente basiert. Sie werden beim BVB weiterentwickelt. Das klappt nicht immer – aber bemerkenswert oft.
Das alles war nur möglich, weil – und jetzt kommen wir endlich zum Punkt und zum wesentlichen Unterschied zum FC Schalke 04 – die Mannschaft eine MANNSCHAFT ist. In sich gefestigt. Mit Spielern wie Roman Weidenfeller, Marcel Schmelzer, Lukasz Piszczek, Nuri Sahin, Marco Reus, Mario Götze, Pierre-Emerick Aubameyang, Shinji Kagawa, Papa Sokratis, Neven Subotic, Erik Durm, die schon eine gefühlte Ewigkeit in Schwarzgelb spielen, zum Teil mal weg waren und geläutert zurückgekehrt sind. Die sich jedenfalls maximal mit dem BVB identifizieren. Hinzu kommen Akteure, die – wie Julian Weigl, Marc Bartra und Gonzalo Castro – noch gar nicht so lange dabei und trotzdem schon auf dem besten Weg sind, ihre Reifeprüfung als „Dortmunder Jungs“ summa cum laude zu bestehen. Vor allem der Umgang der Mannschaft mit dem Bombenanschlag im April hat gezeigt, wie gut dieses Team funktioniert, wie es sich hilft und unterstützt. Zweifellos hat dieses dramatische Erlebnis den BVB noch mehr zusammengeschweißt.
So viel zur Borussia. Und auf der anderen Seite der FC Schalke 04. In der Zeit seit 2008, in der Dortmund drei Trainer beschäftigt(e), hat S04 mit Domenico Tedesco nun den zwölften. Christian Heidel ist im selben Zeitraum der vierte Sportdirektor (nach Andreas Müller, Felix Magath und Horst Heldt). Dass die Mannschaft auf viele Experten wie eine vollkommen heterogene Ansammlung ordentlicher bis guter Fußballspieler wirkt, nicht aber wie ein homogener Kader, der eine klare Idee und Strategie verkörpert, darf doch nicht wirklich wundern.
Sam, Caliguiri, Nastasic, Schöpf, Stambouli, di Santo, Geis, Naldo – bei allem Respekt, aber das sind keine Spieler, mit denen du zwangsläufig in die Champions League einziehst. Nun hatte Schalke in den vergangenen Jahren auch viel Verletzungspech (Coke, Embolo etc.), hat immer wieder wichtige Spieler und Identifikationsfiguren verloren, zum Teil – wie bei Julian Draxler – auch noch mit reichlich zerdeppertem Porzellan. Und hat das, anders als der BVB (etwa bei Götze) eben nicht kompensiert bekommen. Denn finanziell ist S04 auch nicht in der Lage, auf dem überhitzten Transfermarkt in der ersten Reihe mitzubieten bzw. seine Leistungsträger zu halten. Im Grunde weiß man doch heute schon, dass Leon Goretzka 2018 gehen wird. Max Meyer befindet sich seit Monaten im Dauerabschiedszustand, ohne wirklich Abschied zu nehmen. Und zu allem Überfluss schiebt S04 nun auch noch seinen bei den Fans überaus beliebten, jedoch vom Trainer enteierten Weltmeister-Kapitän Benedikt Höwedes ab bzw. verärgert ihn ohne erkennbare Not so sehr, dass er das Weite sucht. Das muss Fan nicht verstehen. Ich bin ausdrücklich keiner – und verstehe es auch nicht. Ich frage mich vielmehr: Wer sind die Leitfiguren, die Eckpfeiler, um die herum S04 mit Weitsicht eine Mannschaft aufbauen will, die den ganzen Wumms, den dieser Klub ja zweifellos hat, perspektivisch mal wieder auf den Platz bringt.
Das Ergebnis der genannten Fehler ist jedenfalls der FC Schalke 04, den wir seit einigen Jahren erleben. Ein Team, das manchmal großartig aufspielt – wie jüngst zum Saisonstart gegen die Weißblechdosen aus Leipzig. Und wenige Tage später maßlos enttäuscht – wie am Sonntag in Hannover. Das heute große Träume und Hoffnungen weckt und sie morgen schon wieder in die Tonne tritt.
Ich glaube immer noch: Christian Heidel kann das hinbekommen. Aber es wird dauern. Und Zeit ist bekanntlich das Einzige, was Verantwortliche auf Schalke noch weniger haben, als der aktuelle Kader Mannschaftsgeist zu haben scheint.